Hundertundeine Nacht
standen doch zur Zeit mehr Betten leer, als unserer Budgetposition unter den Vital-Kliniken gut tat. Ich nahm den Hinterausgang, denn alles, was ich noch wollte, war ein Bier und mein Bett, jedenfalls keine medizinischen Fragen mehr.
Der erste Anruf kam gegen halb acht abends, ich war gerade auf der Couch eingeduselt und antwortete entsprechend freundlich.
»Doktor!« blökte ich ins Telefon, »wenn Sie es alleine nicht schaffen in der Ambulanz, werfen Sie einen Blick in den Dienstplan. Als nächster ist Ihr Vertreter dran, und wenn Sie den nicht bekommen, jeder Kollege, der dumm genug ist, ans Telefon zu gehen.«
Wütend knallte ich den Hörer auf. Kommen die jungen Ärzte nicht einmal mit ein paar hustenden Leuten zurecht?
Zwanzig Minuten später, ich versuchte gerade, mit einer neuen Flasche Bier meine Müdigkeit wiederherzustellen, war Dr. Valenta am Telefon.
»Felix, ich glaube, du solltest sofort kommen. Es gibt ein Problem.«
»Um was geht's denn?«
»Nicht am Telefon.«
Immerhin verfügt Dr. Valenta, Leiter unserer Intensivstation und fast immer in der Klinik, über eine fast so lange medizinische Erfahrung wie ich. Aber warum so geheimnisvoll? Mit einem herzhaften Gähnen ließ ich das angebrochene Bier stehen und suchte den Autoschlüssel.
Die Notfallambulanz der Humana-Klinik glich einem Heerlager. Überall hustende und schniefende Leute, denen man einen Schutz über Mund und Nase verpaßt hatte, auch Valenta kam mir mit Mundschutz entgegen.
»Was ist denn los, Heinz? Können unsere Freunde Hausärzte keinen Husten mehr behandeln?«
»Das ist ein Teil des Problems. Diese Leute kommen zum größten Teil von ihren Hausärzten. Und ich fürchte, zu Recht.« Drei jüngere Kollegen sprangen in der Aufnahme umher, nahmen Blut ab, blickten besorgt drein. Ich sah mir ihre Notizen an und verstand Valentas Besorgnis. Es gab das, was jeder Arzt, jeder Wissenschaftler sucht: Übereinstimmungen. Unsere Huster hatten sich vor zwei Tagen bei einem Popkonzert in der Max-Schmeling-Halle vergnügt und fühlten sich seit heute krank. Brustschmerzen, Fieber, Husten, zum Teil blutiger Auswurf.
Valenta schaute mir über die Schulter.
»Nicht gut, was?«
»Nicht gut, gar nicht gut.«
»Ich habe schon die Leute vom Robert-Koch-Institut alarmiert.«
»Und was sagen die?«
»Alle isolieren, auf jeden Fall.«
»Sehr originell. Haben die dir auch gesagt, wo wir den Platz dafür hernehmen sollen?«
Valenta grinste mich an. »Siehst du, Herr-de-facto-Chefarzt. Deshalb habe ich dich gerufen.«
Irgendwie husteten mir diese Leute ein bißchen viel. Außerdem verläßt sich kein richtiger Arzt nur auf die Notizen seiner Kollegen. Deshalb und um Zeit zu gewinnen, schnappte ich mir einen Mundschutz und befragte einige dieser Patienten selbst. Ergebnis unverändert: vorgestern Popkonzert, heute krank.
Den dritten Patienten ließ ich seine Geschichte zweimal erzählen, dann suchte ich in dem Durcheinander nach Valenta. Er hing an zwei Telefonen gleichzeitig.
»Sag mal, Heinz, hast du dir schon selbst ein paar von den Leuten angehört?«
»Keine Zeit. Zu beschäftigt mit der Organisation des Chaos. Unsere Mikrobiologen sind übrigens im Anmarsch.«
»Tu mir einen Gefallen. Sprich auch du mit den Patienten. Ich organisiere derweil weiter.«
Ich tat allerdings nichts dergleichen, denn inzwischen war ich ziemlich sicher, daß hier etwas faul war. Zehn Minuten später stieß Valenta wieder zu mir.
»Komische Sache, oder?«
»Ein bißchen viele Übereinstimmungen in den Krankengeschichten, nicht wahr?«
»Finde ich auch. Mich erinnert das an einen Schulaufsatz, den alle vom Musterschüler abgeschrieben haben.«
Zur Sicherheit rief ich die Notfall-Ambulanz im Urban-Krankenhaus an.
»Epidemie? Nicht bei uns. Bis auf den üblichen Kreuzberger Mord und Totschlag alles ruhig.«
Valenta hatte mitgehört.
»Das ist der gute Ruf unserer Klinik. Wenn in Berlin die Pest ausbricht, wollen selbstverständlich alle zu uns!«
Damit war Valentas Vorrat an Humor aufgebraucht. Sein normaler Arbeitsblutdruck von hundertsechzig stand wahrscheinlich wieder auf zweihundert, entsprechend gerötetes Gesicht.
»Felix, du gehst jetzt auf unserem Parkplatz spazieren, nimm am besten die ganze Mannschaft mit. Ich werde inzwischen klären, auf wessen Konto dieser späte Aprilscherz geht.«
Angesichts seiner hundertzwanzig Kilo Lebendgewicht, jedes Kilo im Moment zu allem entschlossen, schwante mir nichts
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