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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Daumenmühle plötzlich ab. Um zur Sache zu kommen: Hier gehe es jetzt um Erika Witschorek – er guckte auf eine Karteikarte, ob er den Namen richtig ausspricht –, Erika Witschorek, wohnhaft in Sassenholz, leblos aufgefunden von Budweis, dem Jäger, in einem Entwässerungsgraben. Besagte Erika Witschorek sei übrigens an Herzschlag gestorben und nicht ertrunken, das habe man festgestellt. Sie sei hineingestoßen worden in den Graben und sofort verstorben, aus Schreck vermutlich. Mord scheide aber keinesfalls aus! Der Täter, von dem das Kind in den Graben gestoßen worden sei, habe nämlich den Tod billigend in Kauf genommen. Möglicherweise habe er von dem Herzfehler gewußt und darauf spekuliert, daß es einen Schlag kriegt? Von einer Tötungsabsicht könne man jedenfalls mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausgehen.

    «Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag, Herr Sowtschick? Schreiben, einfach so?» Ob er sich an den Schreibtisch setze und einfach so loslege? Das würde ihn mal interessieren.

    «Ja!» rief Sowtschick: «Und zwar mit der Hand!»

    «Und wieviel Bücher haben Sie auf diese Weise zusammengetragen? »

    Sowtschick zählte es an den Fingern her: «Acht.»

    Der Beamte holte das Buch «Wolkenjagd» aus der leeren Schublade, in der ein Bleistift hin und her rollte, es handelte sich um das Exemplar, das Herr Wagner sich von Alexander auf der Gartenbank hatte signieren lassen. Es wies auf dem Innentitel Sowtschicks Namenszug auf, einschließlich I-Punkt. Steguweit las seinem Gast ein paar Stellen vor, die angestrichen waren. Um einen alternden Mann ging es in dem Buch, der sich mit einem Kinde beschäftigt, einem Mädchen, genauer gesagt, und Stellen waren das, die bis an die Grenze dessen gingen, was Mittelstand sich bieten läßt.

    Sowtschick hatte sich diese Stellen noch nie vorlesen lassen. Den metallenen Verstellkalender der Firma Senneschalk vor Augen, hörte er sich die delikaten Besonderheiten seiner Prosa an, und es war ihm unbehaglich dabei: So delikat, wie er gedacht hatte, waren diese Passagen gar nicht. Er mußte an die 34 000 Leser denken, die das Buch gekauft hatten, und stellte sich vor, daß sie alle gleichzeitig auf eine solche Stelle treffen und sich entrüstet abwenden von Buch und Autor, also von ihm. Peinlich! Wie gut, daß die Polizistin draußen geblieben war, die hätte ihn jetzt gewiß abschätzig gemustert. Aber: Weshalb hatte nie ein Leser diese Stellen moniert? Am Ende diente die «Wolkenjagd» seinen männlichen Lesern zu ganz anderen Zwecken, als man annehmen konnte.

    Ob ihm Erlebnisse dieser Art aus der Feder flössen oder ob er dafür «Studien» treiben müsse? fragte Steguweit. Er selbst sei ja ganz dumm, aber er stelle sich vor, daß man für so was Studien treiben müsse? Die Phantasie allein gebe das doch nicht her? Oder? Und er las noch eine «Stelle» vor.

    «Nein», sagte Sowtschick, der die Landkarte zu studieren begonnen hatte, die hinter Steguweit an der Wand hing, die Kreiskarte mit den signalroten Markierungen und fettigen Flecken vom Drauffassen: Wo, zum Teufel, lag Sassenholz? «Nein, keine Studien. Kombinationen von Gesehenem, Gehörtem und Erlebtem.»

    An den Steinbruch seiner Erinnerungen mußte er denken, an Elke, das Nachbarkind, und an das muskulöse Mädchen Freddy im fernen Kalifornien, wie sie in die Wellen gesprungen war, die Arme wie zum Fliegen gespreizt … Aber mit dem Steinbruch seiner Erinnerungen durfte er dem Herrn Steguweit nicht kommen, das packt der nicht, dachte Sowtschick, das kriegt der nicht auf die Reihe. «Ohne Dings kein Bums»: Wie Jugend sich wohl bei so einem Verhör verhalten würde? Jugend wäre bestimmt gleich rausgerannt. Jugend wäre allerdings gar nicht erst in einen solchen Verdacht geraten.

    Es handele sich beim Schreibprozeß um Kombinationen verschiedener, zeitlich und räumlich weit auseinanderliegender Erlebnisse, sagte er. Auch Lektüre spiele dabei eine Rolle, Bücher, Zeitungen, Träume … «Und außerdem hat man ja im Fernsehen genug Anschauung jeden Tag», sagte Sowtschick, den Vorgang seiner Inspiration vereinfachend.

    «Und das kombinieren Sie? Also, da Hut ab», sagte Steguweit, das würd er nicht hinkriegen, aber irgend etwas müsse ein Schriftsteller anderen Menschen ja auch voraushaben, wie könne er denn sonst so viel Geld verdienen? «Sie verdienen doch tüchtig, oder?» Könne er sich zum Beispiel eine Segeljacht leisten? In einer Kabine sei doch sehr viel Platz… Er

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