HUNGER & LUST: Das erste Buch zur Kulinarischen Körperintelligenz (German Edition)
gar vor drei Jahrzehnten gegessen haben? Oftmals wird sogar zu Beginn einer Studie nur einmal abgefragt, was die Teilnehmer essen. Zehn Jahre später erfolgt dann die statistische Verknüpfung einzelner Essgewohnheiten mit aufgetretenen Krankheiten oder gar der Lebenserwartung. Die Aussagekraft solcher Studien tendiert jedoch gegen Null. Nichtsdestotrotz werden daraus Ernährungsmeldungen wie „Ballaststoffe verlängern das Leben“; erschienen im Februar 2011 nicht etwa in einem Boulevardblatt, sondern im Deutschen Ärzteblatt. Diese „Einmalvor-zehn-Jahren-Essgewohnheiten-abfragen-Studie“ wird in der Ärzte-Zeitung gar als die „größte Studie zum Zusammenhang zwischen Ballaststoffen und Lebenserwartung“ gekürt. Für Gerd Antes vom Deutschen Cochrane-Zentrum, das die Qualität wissenschaftlicher Studien bewertet, ist es „fachlich unbegreiflich, derartige Studien zu unterstützen“, die sich beispielsweise mit dem Nutzen von Tomaten für die Herzgesundheit befassen. Weiter stellte der Cochrane-Experte in einer großen Süddeutschen Zeitung klar, dass die „Ernährungswissenschaften in einer bemitleidenswerten Lage“ sind, weil „Studien in diesem Bereich von vielen unbekannten oder kaum messbaren Einflüssen abhängig sind.“
Das Fazit an dieser Stelle kann nur lauten: Wissenschaftlich belastbare Aussagen zur „gesundheitlichen Wirkung“ von Essgewohnheiten oder gar einzelnen Lebensmitteln sind allein aus forschungstechnischen Gründen nicht möglich. Das „Versuchstier essender Mensch“ ist zu kompliziert. Und noch weitere Faktorenmachen klare Aussagen zum „Gesundheitseffekt“ von Lebensund Genussmitteln nicht gerade leicht: Jeden Tag entsteht eine außerordentlich komplexe Mischung an Nahrung im menschlichen Körper. Niemand weiß, welche Inhaltsstoffe womit, wie oft und in welchen Situationen wozu reagieren, geschweige denn, was diese „unbekannten Endprodukte“ in unserem Organismus alles bewirken. Hinzu kommt: Jeder Mensch hat einen einzigartigen Körper und einen unvergleichbaren Lebensstil – und damit auch einen individuellen Stoffwechsel. Weiterhin befindet sich das „lebende System Mensch“ in ständigem Umbau und zeichnet sich durch einen extrem hohen Grad an Komplexität aus, der sich darüber hinaus durch Interaktion mit seiner Umwelt stetig wandelt. Wie sollen die Forscher unter diesen Voraussetzungen sicher sagen, auf welches Zusammenspiel der verschiedenen Nahrungsbestandteile die beobachteten statistischen Zusammenhänge zurückzuführen sind – ganz abgesehen von den „restlichen“ Lebensumständen, die unseren Zustand ein Leben lang beeinflussen? So wundert die folgende Feststellung des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung auch nicht: „Ergebnisse aus kontrollierten Langzeitstudien, in denen Menschen lebenslang eine vorgegebene Ernährungsweise verfolgen, gibt es nicht.“ Macht nichts, dann wird eben weiter beobachtet und statistisches Strickwerk als wissenschaftliche Wahrheit vorgegaukelt …
Studienergebnisse: absolut relativ & oft geschönt?
Neben dem „Verschweigen des fehlenden Ursache-Wirkung-Nachweises“ wie bei der Schokostudie können die Datendarsteller noch auf weitere statistische Taschenspielertricks zurückgreifen. So wird beispielsweise bei der medial wirksamen Veröffentlichung von Studienergebnissen statt der aussagekräftigen absoluten Wahrscheinlichkeit häufig die relative Wahrscheinlichkeit kommuniziert – deren Werte klingen „besser“, wecken aber leider falsche Hoffnungen. Als Beispiel sei eine Untersuchung zur Mammografie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung genannt: Das relative Risiko, an Brustkrebs zu sterben, wird durch Mammografie um 25 Prozent verringert. Absolut betrachtet reduziert das „Brustscreening“ die Anzahl der Frauen, die an Brustkrebs sterben, um 0,1 Prozent. Hintergrund der Zahlenspielerei: Ohne die Röntgenuntersuchung zur Früherkennung des Brustkrebses sterben vier von 1000 Frauen an Brustkrebs, mit Mammografie drei. Also stehen sich bei einem verminderten Todesfall Werte von 25 und 0,1 Prozentgegenüber. Relativ gut, absolut uninteressant (rein statistisch betrachtet). „Dennoch werden auch heute der Öffentlichkeit fast ausschließlich relative Risiken mitgeteilt und damit eine Überschätzung des Nutzens von Behandlungen bewusst in Kauf genommen. Relative Werte entsprechen größeren Zahlen als absolute Daten und wirken dadurch eindrucksvoller. Das ist einer der Gründe, warum sie
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