Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
den sie nach der Tagesschau im Zweiten Deutschen anschauen würden, sie freute sich auf das warme Bett.
Als das grüne Tram klingelnd über die Kreuzung gefahren kam und anhielt, stieg sie ein. Es war keine schlechte Zeit zum Tramfahren, 19 Uhr, der Stoßverkehr war vorüber, der Wagen halbleer. Das war angenehm, sie hätte jetzt nicht stehen wollen, sie war zu müde. Am Morgen um halb acht war es ihr egal. Dann schlief sie noch halb, und sie spürte die fremden Leiber, zwischen die sie sich beim Einsteigen drängte, kaum.
Erika setzte sich auf einen Einzelsitz, lehnte den geschlossenen Schirm gegen die Wand, damit er abtropfen konnte, und stellte sich die Tasche auf die Schenkel. Sie schaute zu, wie der Wagen anfuhr. Keiner der Fahrgäste sagte ein Wort, alle dösten. Trotzdem fühlte sich Erika wie in einer Familie. Sie hätte nicht allein in einem Auto sitzen und von einem Rotlicht zum nächsten Rotlicht rollen wollen, sie hätte sich einsam gefühlt. Zudem hatte sie keinen Führerschein. Und überhaupt, wo hätte sie ein Auto hinstellen sollen? Die Parkplätze in der Lörracherstraße, wo sie wohnte, waren stets besetzt.
Sie schaute zum Kannenfeldpark hinüber, auf die verschneiten Bäume, deren Äste bis auf den Boden gedrückt wurden. Einige würden brechen, wenn es so weiterschneite.
Das Tram fuhr zum Voltaplatz hinunter. Auf der Kreuzung standen die schweren Überlandlaster, die sich gegenseitig den Weg versperrten. Der Tramführer musste mehrere Minuten warten, bis er anfahren konnte. Das war jeden Abend und jeden Morgen so. Manchmal war auch ein Lastwagen ihres Lebensmittelkonzerns dabei, und sie versuchte dann, dem Mann in der Führerkabine zu winken.
Auf der Dreirosenbrücke rollte das Tram fast lautlos über die Schienen. Zur linken Seite standen die hohen hellen Gebäude der chemischen Fabriken. Ihre Fenster waren beleuchtet, die Menschen dort drin arbeiteten Schicht.
Das Fahren über dem Wasser gefiel Erika jedes Mal ausnehmend gut. Am schönsten war es in den Sommermonaten am Morgen, wenn die Sonne bereits über dem Fluss stand. Dann sah man in der Rheinkurve weiter oben die Mittlere Brücke und die beiden Münstertürme und dahinter die grünen Hügel des Juras stehen. Das erinnerte daran, dass Basel eine schöne, alte Stadt war, und man dachte an Ferien.
Jetzt war nichts zu sehen. Es war zu dunkel, und der Schnee in der Luft versperrte die Sicht. Trotzdem wischte Erika mit dem Ärmel über die angelaufene Scheibe und legte die Stirn gegen das kalte Glas. An Ostern, dachte sie, an Ostern hatte sie eine Woche Ferien. Sie hatte vor, mit ihrem Freund Erdogan nach Magliaso zu fahren. Sie hatte diesen Ort am Luganersee ausgesucht, weil sie früher einmal mit der Jungwacht dort in einem Ferienlager gewesen war, und es kam ihr noch heute vor, als wäre das die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. Es war Herbst gewesen damals, die Wälder waren gelb und rot gewesen und die Kastanien reif, die Kirchenglocken hatten zu jeder vollen Stunde von Figino über den See herübergebimmelt, und sie hatte während der ganzen zwei Wochen nichts anderes zu tun gehabt, als am Abend kurz beim Abwaschen zu helfen.
Sie hatte Erdogan Magliaso vorgeschlagen, als sie davon sprachen, eine Woche wegzufahren. Und sie hatte zum ersten Mal, seit sie sich kannten, insistiert. Er hatte anfangs nicht eingesehen, warum sie verreisen wollte, ihm hätte es auch in Basel gefallen. Aber irgendeinmal wollte sie ihn einige Tage für sich allein haben. Schließlich war sie hier in der Schweiz seine Frau, und er war ihr Mann. Basta.
Im April würde er dann ohnehin für drei Monate in die Türkei fahren. Das musste er tun, er war Saisonnier. Und Saisonniers durften nur neun Monate pro Jahr in der Schweiz bleiben, sie durften niemanden mitnehmen, weder Frau noch Kind. Das fand Erika eigentlich hart, aber in diesem speziellen Fall hatte sie nichts dagegen.
Auf der Reise ins Tessin, so hatte sie es geplant, würden sie einen Abstecher nach Weggis machen und die Mutter besuchen. Das wollte Erika so haben, unbedingt, es gab da keine Widerrede. Sie würde Erdogan der Mutter als ihren Verlobten vorstellen, mit dem sie zusammenlebte, obschon sie noch immer nicht verheiratet waren. Aber eine Heirat war, so würde sie behaupten, mit einem türkischen Staatsangehörigen, der erst noch Muslim war, äußerst schwierig. Und die Hauptsache war doch, dass man sich liebte.
Dass Erdogan in der Türkei eine Ehefrau und drei Kinder hatte, brauchte in
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