Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
wertvolle Stützen der Gesellschaft und Verwaltungsräte und Duzfreunde von Staatsanwälten und Farbenbrüder von Nationalräten, und es war ehrverletzend und beschämend, solchen wertvollen Honoratioren auf den Pelz zu rücken.
Selbstverständlich war dieser Kayat ein Kurier. Die deutsche Kripo hatte ja präzise Angaben gemacht, und sie selber hatten ihn schon längst im Visier. Aber ebenso selbstverständlich würde man Kayat laufenlassen müssen.
Recht geschieht ihm, diesem Libanesen, dachte Hunkeler, als er die verschneite Treppe hinunterstieg, soll er hocken und scheißen, bis er platzt, so hat er wenigstens einen Teil seiner gerechten Strafe. Er spürte ein hämisches Grinsen über sein Gesicht gleiten, und er merkte, dass ihm dieser braune Mann ziemlich sympathisch war. Der kämpfte wenigstens an der Front, der riskierte etwas, und zwar für vergleichsweise wenig Geld, der war ein Gegner.
Er trat auf den Barfüßerplatz hinaus. Nasser Schnee rann ihm in den Nacken, sein Haar musste tropfnass sein. Der Schnee fiel jetzt so dicht, dass er auf dem Asphalt liegen blieb. Die Autos fuhren im Schritttempo, die Passanten setzten ihre Schritte behutsam, einige mit verkniffenen Gesichtern, als ob dieses Schneien ein großes Unrecht wäre, andere halb belustigt. Die Barfüßerkirche gegenüber stand wie eh und je leicht und majestätisch da, in unnahbarer Grandezza, das oberste Fenster samt Giebel nach links verschoben. Hunkeler hatte sich schon vor Jahrzehnten gewundert, woher diese Asymmetrie kam, ob sie Zufall war oder geplant und etwas zu bedeuten hatte. Er hatte sich bei Kunststudenten und Historikern danach erkundigt, aber niemand hatte eine Antwort gewusst.
Er betrat die Rio Bar, schaute sich kurz um und setzte sich zu Ralf, der am Fenstertisch rechts hinter einer Zeitung saß. Ralf war Sportredaktor beim einzigen größeren Lokalblatt. Sie hatten sich kennengelernt, als sie gemeinsam an der Uni die ersten Semester Jus studiert hatten. Sie hatten gelangweilt inmitten der eifrigen Studentinnen und Studenten gesessen im Hörsaal sechzehn, sie hatten beide durch die hohen Fenster auf den Petersplatz hinausgeschaut, auf die Ulmen und Linden, sie hatten sich nach den Vorlesungen zu einem Bier in die Harmonie gesetzt und über ihre wirklichen Interessen diskutiert. Hunkeler war damals Fan von Georges Brassens und der Porte des Lilas in Paris gewesen, Ralf hatte soeben Jacques Brel entdeckt. Sie hatten sich einige Male nach einer abendlichen Pintenkehr in den Nachtzug nach Paris gesetzt und waren einige Tage später wieder in den Vorlesungen aufgetaucht, abgerissen und übernächtigt, aber sie fühlten sich ihren Kommilitonen gegenüber unendlich überlegen.
Ralf war dann zur Zeitung abgesprungen. Er hatte zuerst einige Theaterkritiken geschrieben, arrogant und ungewohnt bösartig, was ihn zwar in der Stadt auf einen Schlag bekannt gemacht hatte, was aber den Chefredaktor, der mit dem Theaterintendanten befreundet war, bewog, ihn in den Sport zu versetzen.
Hunkeler war damals mit etwas Geld, das er von einem früh verstorbenen, debilen Onkel geerbt hatte, nach Paris gefahren, um Clochard zu werden, wie er am Fenstertisch in der Rio Bar verraten hatte. Er hatte im Quartier Latin gewohnt, in einer ungeheizten Mansarde, in der er zwar nicht aufrecht hatte stehen können, in der es ihm aber richtig wohl gewesen war, so wohl wie noch nirgends in seinem Leben. Er hatte tatsächlich Anschluss an einige Clochards gefunden, die vorn an der Ecke beim Relais d’Odéon auf dem Gitter über dem Lüftungsschacht der Metro schliefen. Er hatte einige Male dort übernachtet, neben den alten, eingemummten Gestalten liegend, aber dann hatte er sich wieder in seine Mansarde zurückgezogen. Er war kein Clochard. Er hatte keinen Grund dazu.
Er hätte ohne weiteres in Paris bleiben können, das Leben dort gefiel ihm gut. Aber dann kehrte er doch wieder nach Basel zurück, um weiterzustudieren.
Vielleicht war das alles Zufall gewesen. Es war Zufall, dass er bald darauf seine spätere Ehefrau kennengelernt hatte, von der er inzwischen geschieden war. Es war Zufall, dass er sein Studium aufgegeben hatte und ins Basler Polizeikorps eingetreten war, als sein erstes Kind geboren wurde. Und es war Zufall, dass er jetzt, an diesem Tag, zu dieser Stunde, in diesem Lokal saß.
Die Rio Bar hatte sich seit damals auf den ersten Blick nur wenig verändert. Noch immer hingen an den Wänden die breiten Spiegel wie in einem französischen Bistro,
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