Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
und noch immer waren die einzelnen Tische durch Holzwände abgetrennt. Auch die Kundschaft war scheinbar die gleiche wie seit Jahrzehnten, Studentinnen und Studenten, Kunstmalerinnen, versoffene Junggesellen und vereinzelte Strohwitwer. Der Lärmpegel stand hoch wie eh und je, die Luft war zum Schneiden, aber es fehlte die Offenheit, die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung.
Es fehlte die Freude. Das war es, was Hunkeler auffiel. Es fehlte das herzliche Lachen. Niemand schien es zu genießen, hier sitzen und Wein oder Kaffee trinken zu können, niemand schien entschlossen zu sein, wieder einmal ordentlich auf den Putz zu hauen, nirgends war die geringste Spur von Erotik, von Geilheit zu entdecken, und die Wirtin, die blond und bleichgesichtig hinter der Kasse stand, sah aus wie eine leblose Puppe. Ein abgestandener Haufen Scheiße, dachte Hunkeler, eine Runde von Wohlstandsidioten, eine Versammlung verblödeter Langweiler, die Ambiance eines total angepassten Coiffeurladens.
Hunkeler hätte mit niemandem reden mögen außer mit Ralf, er hätte sich nirgends einmischen wollen, an keinem der Tische und auch nicht an der Bar. Er kam sich deplaziert vor wie ein Bauer im Schönheitssalon, und er überlegte, ob er die miese Stimmung, die ihm entgegenschlug, nicht aus sich heraus in diesen Raum hineinprojizierte. Wer war er denn selber, fragte er sich. Hatte denn er die Lust und die Kraft, wieder einmal ordentlich auf den Putz zu hauen? Aber nein, das war vorbei, er hätte sich das in der Öffentlichkeit schon aus beruflichen Gründen nicht erlauben können. War er selber etwa keine Wohlstandsnutte? Aber gewiss war er das, er war ein lebenslang gekaufter Beamter mit dreizehntem Monatslohn und schöner Rente.
Er nahm die Stange Bier, die ihm der tamilische Kellner gebracht hatte, setzte sie an und trank sie in langsamen, regelmäßigen, schönen Zügen aus.
»So«, sagte er laut und stellte das leere Glas hin, »das hat doch alles keinen Sinn.«
Ralf nebenan ließ seine Zeitung sinken. »Geht’s dir nicht gut?«, fragte er.
»Nein«, sagte Hunkeler, »das hält ja keine Sau aus.«
»Vergiss es«, sagte Ralf und nahm wieder die Zeitung hoch, »sauf dir einen an und schlaf aus.«
Hunkeler lehnte sich zurück, schloss die Augen und rollte sich ein in seine Erinnerung. Die Jugendzeit, dachte er, Zeit der Versprechen, der Angebote, des grenzenlosen Vertrauens. Deine Hand auf einem Mädchenknie nebenan, und die Mädchenaugen drehen sich zu dir her und leuchten. Oder eine blonde Haarsträhne, die über ein sommersprossiges Gesicht fällt. Runde Augen, die lieben wollen. Eine Wange, die sich an deine Schulter legt. Eine Mädchenzunge, die sich kurz zwischen deine Lippen drängt. Dann die Heimkehr durch die leere, schwarze Stadt, wortloses Gehen im selben Schritt, deine Hand auf ihrer rechten Hüfte, und du spürst ihr Wiegen. Das leise Öffnen der Haustür, das behutsame Steigen unters Dach, damit die Stufen nicht allzu laut knarren. Das Betreten der Mansarde, ein kurzes Kichern. Dann greifst du ihr ins Haar und rollst dich mit ihr ein im Bett zu einem neugierigen Knäuel.
Nach dem dritten Bier erhob sich Hunkeler von seinem Stuhl am Fenstertisch, drängte sich durch die vor der Theke stehenden Menschen und betrat die Toilette. Er stützte sich mit der linken Hand gegen die gekachelte Wand, pisste und dachte nach. Anschließend schob er Kleingeld in den Telefonapparat, der im kleinen Vorraum hing, und wählte. Es war Schneeberger, der abnahm.
»Und?«, fragte Hunkeler.
»Nichts«, sagte Schneeberger, »der Darm ist leer, da ist nichts mehr drin.«
»Lasst ihn laufen«, sagte Hunkeler, »aber bleibt an ihm dran. Rund um die Uhr, und an Huber auch.«
»Selbstverständlich«, sagte Schneeberger und hängte auf.
Hunkeler verließ das Lokal und nahm draußen auf dem Barfüßerplatz ein Taxi. Er hätte auch mit dem Tram heimfahren können, aber er wollte es heute Abend anders haben. Er wollte noch ein bisschen auf den Putz hauen.
Der Wagen glitt langsam durch den Schneefall. Wie ein Schiff, dachte Hunkeler, wie ein lautloser, sanfter Kahn. Oder wie der Schneepflug früher auf dem Lande, in der Kindheit, als vier Pferde das aus schweren Balken gezimmerte dreieckige Gefährt durch den kniehohen Schnee zogen. Fridolin kam ihm in den Sinn, der Rossknecht Fridolin, der mit der Pfeife im Munde vorne drauf gesessen und ihn aufgefordert hatte, sich ebenfalls hinzusetzen. So waren sie zusammen durch das heimische Quartier gefahren,
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