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Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Hunkelers zweiter Fall - Flattermann

Titel: Hunkelers zweiter Fall - Flattermann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hansjörg Schneider
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gefiel ihm.
    Er ging in die Küche hinüber, riss auch hier das Fenster auf, griff dann, ohne genau hinzusehen, in den Eiskasten und nahm ein Bier heraus. Er setzte sich, schenkte ein, trank. Das Bier, das beruhigende, tröstende, rann ihm durch die Kehle. Ein feiner Sommerabend, dachte er, angenehme, langjährige Freunde, denen man sich nicht mehr erklären musste, man kannte sich lange genug. Mürbe Leute wie er, schon fast leidenschaftslos, ohne Illusionen. Nur wenn das Herzass nicht kam, das eigentlich kommen sollte, flackerte auf einmal das alte und plötzlich wieder junge Gift in den Augen auf. Es wurde kurz geschrien, dann wieder gelacht. Ein wackerer Wohlstand ringsum am Tisch, der es einem erlaubte, ohne weiteres zwei, drei Flaschen vom besseren Weißen zu bezahlen, wenn man Kartenpech hatte. Was wollte man mehr?
    Ja, was wollte man mehr?
    Er erhob sich, ging ins Schlafzimmer hinüber, riss die Tischschublade auf und nahm ein rotes Schreibheft heraus, A4-Format, die Seiten kariert. Er trug es an den Küchentisch zurück, zündete sich eine an, hustete, nahm aber einen weiteren, tieferen Zug und schrieb folgende Sätze auf:
    »Ich, Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariates Basel, überlege wieder einmal, was ich tun soll. Ich hocke bös in der Tinte, bildlich gesprochen, aber wahr. Ich habe eingebrochen und gestohlen und weiß nicht recht, warum ich das getan habe. Dann habe ich mitten in der Stadt eine zauberhafte junge Frau gesehen, die ihre Hand in einer Männerhose drin hatte. Das hat mich so gerührt, dass ich fast geweint hätte vor Freude. Wo ist die Sehnsucht geblieben? Mein Vater ist mit mir einmal an einem heißen Sommernachmittag in eine Gartenwirtschaft gegangen. Das war, als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Er hat mit allen Anzeichen der Vorfreude ein Bier bestellt, hat es, sich die Lippen leckend, eingeschenkt, hat dann das volle Glas mit dem Schaumkragen zum Mund geführt, glücklich die Augen verdrehend, hat einen kräftigen Schluck genommen und sogleich voller Abscheu wieder ausgespuckt. Das war ein richtiges Schmierentheater, schwer outriert. Er hat dann das Bier zurückgegeben und einen Apfelsaft bestellt, unvergoren, und diesen hat er mit großem Behagen geschlürft. So wollte er mir weismachen, wie schlecht gegorene Säfte schmecken. Er hat nämlich geglaubt, er sei mein Vorbild, ich würde ihn zeitlebens nachahmen. Da hat er sich gründlich getäuscht. Er war alles andere als mein Vorbild. Ich wollte unter keinen Umständen so werden wie er. Zudem saßen ja in jener Gartenwirtschaft mehrere Männer, die den gegorenen Gerstensaft mit größtem Vergnügen getrunken haben. Ich habe damals gedacht, dass mein Vater nicht ganz normal sei.
    So einer war er.
    Und meine Mutter? Was war eigentlich mit meiner Mutter? Sie hat manchmal einen breitrandigen Hut getragen, schön anzuschauen. Den hat sie mit einer Hand festgehalten, wenn Wind war, damit er nicht fortflog. Eine schlanke, hohe Gestalt. Und trotzdem zerbrechlich.«
    Hier hörte Hunkeler auf. Denn da war wieder der Tränenschub in die Augen hinein, ganz plötzlich. Nichts zu machen, keine Gegenwehr war möglich. Er schluckte leer, nahm das Taschentuch heraus, wischte sich über die Augen. Verdammt, diese Scheiße. Dieser Schwachsinn, dieser sentimentale Kitsch. Jetzt ging er schon gegen sechzig, und noch immer hatte ihn die Vergangenheit in den Fingern.
    Er schloss das Heft, er konnte nicht weiterschreiben. Er wollte nicht, basta. Wozu auch, wozu?
    Er hob seinen linken Unterarm vors Gesicht, er roch daran. Der Hemdsärmel duftete seltsam, fremder Schweiß schien darin zu hängen. Und doch war es sein eigener Schweiß.
    Er erhob sich, öffnete den Eiskasten, nahm ein zweites Bier heraus und sah das blaue Heft des Freddy Lerch daliegen. Richtig, da war es, und er hatte es entwendet. Er nahm es heraus, schloss den Eiskasten wieder. Er schenkte sich das Bier ein, setzte sich und fing an zu lesen, was mit URSPRUNG UND HERKUNFT überschrieben war.
    »Ich, Freddy Lerch, geboren am 1. Februar 1916, von Beruf Konditor, ledig, bin ein Kind armer Leute. Aufgewachsen in Barzwil im Kanton Solothurn, lag ich nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Ich habe drei Geschwister, zwei Schwestern, einen Bruder. Er ist im Jahre 1943 an Tuberkulose gestorben, ein schwerer Schlag für uns alle. Mein Vater war Posthalter von Barzwil. Da galt es, schon früh seinen Mann zu stellen. Pakete und Briefe austragen jeden Tag, auf die abgelegenen Juragehöfte und

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