Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
Sie hatte ein Kind und war katholisch. Das war das Unglück. Sie konnte sich nicht freimachen. Das habe ich begriffen, wenn auch mit Mühe. Das war ein Schmerz.
Es geht ihr gut. Sie lebt in besseren Verhältnissen. Aber auch ich hätte ihr ein rechtes Auskommen bieten können.
Das war eine harte Schule für mich. Ein Riss in meinem Leben. Ich habe ihn nie ganz überwunden. Es wäre doch gegangen mit uns. Aber der Mensch braucht eine Niederlage, sonst wird er übermütig. Die Bäume wachsen nicht in den Himmel.
Ich ging dann zur See. Davon handelt das nächste Kapitel, das ich mit AUFBRUCH INS UNBEKANNTE überschreiben will.«
Weiter kam Hunkeler nicht. Der Wind hatte den Garten erfasst. Er riss an der Pappel, an der Weide, griff ins Heft, dass die Seiten flatterten. Hoch oben flog ein roter Plastiksack vorbei. Er öffnete das Hemd, spürte die frische Luft am Leibe.
Kein Baum wächst in den Himmel, dachte er. Und ich habe es damals nicht einmal fertiggebracht, von der Mittleren Brücke zu springen. Von der See nicht zu reden. Ich bin kein Brückenspringer geworden, kein Matrose auf hoher Windjammer-Rahe. Ich bin ein braver Süßwasserschwimmer geblieben.
Er spürte Hedwig hinter sich, schloss fast verschämt das Heft und drehte sich um. Da stand sie am Fenster, mit schönen, schweren Brüsten, verquollenen Augen.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Warum?«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht zwei Stunden.«
Große Tropfen knallten auf den Tisch. Die Pappel bog sich wie ein Grashalm.
»Was hast du denn?«, fragte sie. »Weinst du schon wieder?«
»Nein, das ist der Wind.«
»Ach so«, sagte sie, »es regnet ja. Endlich.« Sie legte ihm die Hand in den Nacken, streichelte ihn. Gemeinsam schauten sie zu, wie der Regen einsetzte, ein kühles Rauschen.
Sie saßen bei Jaeck, aßen Quiche Maison und Salat, tranken Beaujolais mit Mineralwasser, neben sich Wiemkens trauriger Clown. Das Fenster stand offen, draußen fiel Sommerregen.
»Ich rieche nicht mehr wie früher«, sagte er. »Hast du das bemerkt?«
»Ja.«
»Als ob ein Fremder in meiner Haut stecken würde. So ist das.«
»Du bist immer noch der Gleiche. Da steckt kein Fremder in dir drin. Du bist immer noch derselbe sture Bock wie früher, als ich dich kennengelernt habe.«
»Du könntest bitte ein bisschen lieber sein zu mir«, sagte er, beleidigt wie eine Katze. »Ich leide nämlich unter diesem fremden Geruch.«
Sie stopfte sich den Mund voll, schmatzte, nahm einen Schluck aus dem Weinglas. »Ihr Männer seid doch die allergrößten Kindsköpfe«, sagte sie kauend. »Kaum ist einer im Klimi, fängt er an zu heulen.«
»Wie bitte?«
»Klimi, Mann«, sagte sie, kühl bis ans Herz. »Du bist im Klimakterium. Verstehst du? Du veränderst dich zu einem alten Mann.«
»Und dann stinkt man, im Klimi?« Ungläubig kam das, scharf wie im Verhör.
»Ja, dann stinkt man. Und auch Frau stinkt im Klimi. Im Übrigen bitte ich dich, mich nicht mehr zu kujonieren mit deinem Polizistenton. Ich sitze nämlich freiwillig hier. Weil ich dich liebe. Ich frage mich allerdings, warum.«
Sie lehnte sich zurück, streckte die linke Hand aus dem Fenster, die Mutterhand, wie ihm auffiel, auf die Regentropfen fielen.
Er grinste höhnisch, besserwisserisch, schwieg überlegen. Das war seine beste Waffe, das Schweigen. Diesmal stach sie nicht, er hatte einfach keine Chance. Sie schenkte sich ein, hob das Glas zum Mund, zeigte einen veritablen, erstklassigen Augenaufschlag und sprach: »Liebst du mich immer noch, du alter Mann?«
Er prustete los. Er spie das Stück der Quiche, das er eben reingeschoben hatte, auf den Tisch, es schüttelte ihn, er wieherte wie der allerletzte, ausgemusterte Traingaul. Sie schaute ihm noch immer ins Gesicht, mit klimpernden Wimpern, sie mimte die Jungfrau vom Lande. »Siehst du«, sagte sie, als er sich beruhigt hatte, »lachen wir doch darüber. Du weißt doch das alles schon längst.«
»Ich liebe dich aus drei Gründen«, sagte er.
»Hör auf.« Sie rümpfte die Nase.
»Erstens: Weil ich gern mit dir schlafe. Zweitens: Weil du gern mit mir schläfst. Drittens: Weil du so gut lachen kannst.«
Sie zog die Hand zurück aus dem Regen, strich sich die Tropfen auf die Stirn, überlegte.
»Sag einmal, was ist das eigentlich für ein Heft, in dem du auf der Bank draußen gelesen hast?«
»Das ist das Heft des Freddy Lerch.«
»Und woher hast du dieses Heft?«
»Ich habe eingebrochen in seine Wohnung und habe es
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