Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
nach vorn. Niemand stellte sich ihm in den Weg, auch ich nicht, der ich gescheit und schon ziemlich stark war. Vorne auf dem Podest versuchte der Näppu, sich Fernand aufs linke Knie zu legen, um ihm den Arsch zu verhauen. Doch der entwischte ihm erstaunlicherweise. Wir hofften alle einen Augenblick lang, er würde zur Tür hinausrennen, aus dem Schulhaus fliehen und auf Nimmerwiedersehen in den umliegenden Wäldern verschwinden. Aber nein, Fernand blieb. Er wandte sich zum verdutzten Näppu zurück, ging auf die Knie, faltete die Hände, sprach schluchzend: Bitte nein, bitte nein! Das war zu viel, selbst für den alten Näppu. Wir sahen, wie ihm die Tränen der Rührung in die Augen drangen, fast hätten sie ihn übermannt. Aber nichts da, Gerechtigkeit musste sein. Er griff sich Fernand wieder, legte ihn sich wie ein Stück Wäsche übers linke Knie und hieb ihm die zehn Schläge auf den Hintern.
Die ganze Klasse weinte, aber was soll’s? Fernand durfte anschließend nicht einmal nach Hause gehen. Er musste bleiben. Er schlich zurück auf seinen Stuhl. Stumm. Erledigt.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragte sie.
»Wenn ich etwas bereue in meinem Leben, und ich bereue fast nichts, so ist es die Tatsache, dass ich damals nicht nach vorn gegangen bin und den weinenden Fernand an der Hand genommen habe.«
Am Sonntagmorgen führte der Rhein Hochwasser. Hunkeler war erst gegen Mittag nach Basel zurückgefahren. Er hatte die Kühle der Nacht genossen, das Fallen der Tropfen auf die Blätter draußen. Er hatte gut geschlafen, den Leib Hedwigs neben sich, über sich die warme Decke. Beim Frühstück hatten sie nicht viel geredet, nach wortreichen Abenden pflegten sie zu schweigen.
Das Badehaus war fast leer. André war da, der braungebrannte Werner, einige Jungfrauen. Der Kiosk war geschlossen. Die Stege unten waren meterhoch überschwemmt vom lehmbraunen Wasser. Die Enten fehlten.
Hunkeler setzte sich an seinen gewohnten Platz, schaute hinaus auf den reißenden Fluss. Allerlei Astwerk trieb vorbei, kleinere Bäume, von der Wucht der Flut entwurzelt. Ein leerer Tanker glitt bachab, auffallend schnell.
Ein Mann näherte sich, den er flüchtig kannte, ein Rentner der üblen, dummen Sorte. Er getraute sich kaum, aber er schaffte es doch, stellte sich vor Hunkeler hin und streckte ihm ein Foto entgegen.
»Ich bin Gründungsmitglied des Vereins Rheinbad St. Johann«, sagte er. »Jetzt schauen Sie sich das an, Herr Hunkeler, wenn ich bitten darf. Dieses Foto habe ich gestern am späten Nachmittag aufgenommen, dort vor dem Kiosk.«
Er schien sich seiner Sache sicher zu sein, er triumphierte fast. Aber ganz reichte es eben doch nicht.
Hunkeler nahm das Foto und schaute es an. Er sah den offenen Kiosk, er sah Frau Lang, die sich hinauslehnte und einem weißen Pudel, der sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, ein Stück Wurst hinstreckte. Alles in Farbe, aufgenommen mit einer Polaroid-Kamera. Er hob den Blick, blinzelte kurz, obschon die Sonne nicht schien, und fragte: »Und?«
Jetzt wich der Triumph aus dem Gesicht des Mannes, Empörung machte sich breit, ein ungläubiges Staunen über so viel Ungerechtigkeit auf der Welt. »Aber Hunde sind doch verboten im Badehaus. Das steht in den Statuten.«
Hunkeler schaute interessiert in das alte Männergesicht. So sieht die Schweiz aus, dachte er, abgestorben, blöd, verkommen.
Er schmiss das Foto auf den Tisch, sagte: »Leck mich am Arsch.« Dann erhob er sich, schob den Mann zur Seite und ging hinaus. Unglaublich, dachte er. Der ist gesund, hat eine Rente, wohnt in einer angenehmen Stadt mit einem Fluss, in dem man schwimmen kann. Und über was regt er sich auf? Über einen weißen Pudel, der auf den Hinterbeinen steht.
Der Regen hatte aufgehört, der Asphalt war noch feucht. Die Malven, die aus den Ritzen der Böschung wuchsen, hatte der Sturm niedergedrückt.
Hunkeler brauchte Wasser. Eine Woge, um diesen Stumpfsinn wegzuspülen. Eine Sturmflut, um diese Wohlstandsreiter, die sich mit ihren Schweizer Franken die halbe Welt untertan machten, zu ersäufen. Pfui Teufel, sprach er, pfui Teufel.
Der Wasserpegel war nicht mehr zu sehen unter der lehmigen Brühe. Ein Stück der Treppe beim Hotel Drei Könige war aber noch frei. Er stieg hinab, er spürte die ungeahnte Kälte am Bauch. Wie war denn heute die Wasserqualität? Befriedigend bis gut oder immer noch schlecht? Lehmig-dreckig oder schlicht bräunlich-blöd? Oder war etwa ein Tolggen hineingefallen?
Er stieß sich
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