Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
gestohlen.«
Sie erschrak. Sie wusste, dass er die Wahrheit sagte.
»Bist du wahnsinnig geworden?«
»Vielleicht.«
Er grinste verlegen, seine Lippen zitterten, flatterten. Er hätte gern etwas gesagt, er wusste nicht, was.
»Jetzt ist mir eingefallen, warum ich dich liebe«, sagte sie, mit kühlen Augen, es gab kein Entrinnen. »Erstens: Weil ich hin und wieder gern mit dir schlafe. Zweitens: Weil du gescheit bist. Drittens: Weil du spinnst.«
Er bestellte einen Marc de Bourgogne, en ver de Cognac, im Schwenkglas. Er wollte den Duft riechen, den herben, weichen.
»Ich bin müde«, sagte Hedwig, »ich möchte heimfahren.«
»Nur fünf Minuten«, bat er, »ich will dir eine Geschichte erzählen.«
»Bitte«, sagte sie und gähnte, »sprich dich aus, mein Sohn.«
Er hob den Marc an die Nase, schnupperte. Ein Duft wie Honigholz, ein Geruch, der sich nie verändern würde. Immerhin das.
»Ich bin in einer Kleinstadt im schweizerischen Mittelland aufgewachsen«, fing er an.
»Das weiß ich.« Sie rümpfte die Nase, aber nur ein bisschen.
»Sie ist wichtig, diese Einleitung«, behauptete er, »sonst verstehst du die Geschichte nicht.«
Sie hob das Weinglas an den Mund, ließ wieder die Wimpern klimpern, aber er lachte nicht, und sie hörte auf.
»Dieses Städtchen ist der Schauplatz der Geschichte, die ich erzählen will. Und hör mir jetzt verdammtnochmal zu.«
»Ach dieser ewige Schwachsinn«, sagte sie und stellte das Glas mit einem trockenen Klang auf den Tisch zurück.
Er ließ sich nicht beirren. »In dieser Kleinstadt«, fuhr er weiter, »gab es eine Ringmauer. Altes Gemäuer, Plumpsscheißen, kalt und windig. Dort wohnten die Armen.
Als ich neun war, saß in meiner Schulklasse einer aus der Ringmauer. Ich weiß noch, wie er hieß. Fernand. Ein französischer Name. Komisch, nicht?«
Er grinste sie an, aber sie verzog keine Miene.
»Der konnte überhaupt nichts. Im Turnen nicht, im Schreiben nicht, im Rechnen nicht. Er hatte eine dicke Brille vor den Augen, die seine Pupillen wie eine Lupe vergrößerte. Dauernd schiss er in die Hosen, beim Diktat, auf der Schulreise, immer hatte er diesen warmen Klumpen am Hintern. Das stank auf zehn Meter Distanz, aber uns war das im Grunde egal. Wir wussten, dass er aus der Ringmauer kam, und er war nie böse zu uns. Kannst du mir folgen, Schlafgenossin?«
Sie nickte, sie gähnte.
»Wir hatten einen Lehrer, den nannte man Näppu. Das war ein Mann von Prinzipien. Der hatte einen Haselstecken stehen, direkt neben dem Pult. Einen Meter lang, geschält, biegsam. Der hat uns gleich in der ersten Stunde den Tarif erklärt, wie viele Schläge für welches Vergehen.
Mir war das gleich. Ich kam aus einer durchschnittlichen Familie. Wenig Geld, aber eine liebe Mutter. Auch ich habe mehrere Male die linke Hand hingestreckt, um die Streiche zu empfangen, obschon ich der Gescheiteste der Klasse war. Ohne mit der Wimper zu zucken. Die Hand war danach jeweils rot angeschwollen.
Eines Morgens stellte sich der Näppu dicht hinter Fernand hin, ihn überragend, beschattend. Den Stecken hielt er in der rechten Hand. Es gab noch keine Kugelschreiber damals, wir schrieben mit Tinte. Das Tintenfass war rechts ins Pult eingelassen. Feder in Tinte, nicht zu tief, sonst fiel der Tolggen; Feder aufs Heft, aber nicht zu fest, sonst kratzte sie; und alles locker, ohne Verkrampfung bitte.
Genau das konnte Fernand nicht. Es war ihm schlicht unmöglich. Weiß der Teufel, warum. Vielleicht hatte er nicht die richtige Feder oder nicht die richtige Brille oder nicht die richtige Mutter. Er brachte es nicht fertig, die Feder aus dem Tintenfass zu heben und aufs Papier zu setzen, ohne dass ein Tolggen fiel. Das wussten wir alle, wir kannten ihn ja.
Näppu sprach: Hör, Fernand, für jeden Tolggen gibt es einen Schlag mit dem Haselstecken auf deinen Kopf. Sind zehn Tolggen respektive Schläge gefallen, nehme ich dich nach vorn. Und dort gibt’s zehn Schläge mit dem Stecken auf deinen Hintern, vor der ganzen Klasse.
Fernand zitterte bereits. Die Tränen liefen ihm über die Wangen, der erste Tolggen fiel. Wumm, der erste Schlag auf Fernands Kopf. Wir alle hielten den Atem an, aber wir weinten noch nicht. Denn das war noch ziemlich normal.
Beim zehnten Schlag zitterte die ganze Klasse. Das ging zu weit, was jetzt kam, das war unmenschlich, unchristlich, das wussten wir alle. Näppu griff sich Fernand, der war nicht schwer, ein Häufchen Elend. Er schleppte ihn zwischen den Bänken hindurch
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