Hunkelers zweiter Fall - Flattermann
ab, warf sich nach vorn. Die Strömung riss ihn gleich weg, zog ihn mit, trieb ihn der Grenze, dem Meer entgegen. Eine Kälte war das, erfrischend wie in einem Bergbach. Es drehte ihn herum wie einen Baumstamm, es hob ihn hoch und riss ihn gleich wieder in die Tiefe. Er lebte, der Fluss. Die eisigen Finger der Sintflut, dachte er. Und dann machte er etwas, was er eigentlich gar nicht mehr konnte. Er jauchzte.
Die Einstiegsstufen zum Badehaus musste er mit den Füßen ertasten, zu sehen waren sie nicht. Er duschte sich nicht, er liebte den Dreck auf seiner Haut. Langsam watete er über den glitschigen Steg, stieg die Treppe hoch und sah Detektiv-Wachtmeister Madörin am Tisch sitzen, in Rock und Krawatte.
Was wollte der? Suchte er etwas, vielleicht ein verschwundenes Heft mit der Lebensgeschichte eines verstorbenen Seemanns? Hunkeler trat hinzu, griesgrämig scheinbar, aber er war auf der Hut.
»Ich bin eben mal zufälligerweise vorbeigekommen«, sagte Madörin. »Da wollte ich schauen, ob der Johnny Weissmüller daheim ist. Und siehe da, er ist zu Hause. Bei Sturm und Regen durch den Dschungelfluss der Großstadt kraulen, nicht wahr? Ja ja, der eisenharte Kommissär. Wer hätte das gedacht?«
»Was ist los?«, sagte Hunkeler, »geht’s dir nicht gut?«
»Ich wollte nur mal auslüften. Auf andere Gedanken kommen. Der Polizeiberuf ist ja, wie du weißt, nicht nur eitel Honiglecken. Wenn du nicht aufpasst, hast du plötzlich den Schwarzen Peter in der Hand.«
Ach so, so war das. Hunkeler grinste.
»Hör auf zu grinsen«, sagte Madörin, »ich ertrage das heute schlecht.«
»Und du hör auf, so saublöd zu philosophieren.«
Madörin schaute ihn an, direkt und offen, ein trauriger Hundeblick.
»Jetzt erzähl schon«, sagte Hunkeler.
»Silvan Lerch ist abgehauen.«
»Was?« Hunkeler sprang auf. »Seid ihr wahnsinnig? Seid ihr wirklich die allerletzten Idioten?«
»Warum?« Das kam fast flehend. »Ich habe gemeint, der Fall interessiere dich nicht, du wolltest eine ruhige Sommerkugel schieben.«
Hunkeler wandte sich ab. Am liebsten hätte er den Kollegen gepackt, geschüttelt, geohrfeigt. So ein Schwachsinn, so ein Stumpfsinn. Und jetzt war wohl die gesamte Polizei Europas hinter dem Schlingel her.
»So produziert man Kriminelle«, schrie er. »Wisst ihr das nicht? Der hat doch nichts verbrochen, der hat bloß einen gerissenen Deal versucht. Das war doch nichts Illegales, was er versucht hat.«
»Im Koffer drin waren drei Kilo Heroin. Und hat er das Geld für den Luxuswagen tatsächlich von seinem Großonkel bekommen? Kannst du das beweisen? Hat er vielleicht nicht schon vorher gedealt? Ganz illegal, meine ich?«
Hunkeler setzte sich. Nur Ruhe, Ruhe. Sonst merkt er etwas.
»Wann ist es passiert?«
»Vor zwei Tagen. In der Volkszahnklinik. Er hatte eine geschwollene Backe. Haller hat ihn hingebracht. Aber wir dürfen ja nicht mit in den Behandlungsraum, sonst könnte ja jemand an seiner Seele Schaden nehmen.«
Bitter tönte das, als ob einer alle frommen Illusionen verloren hätte.
»Ab durchs Toilettenfenster, wie üblich. Auf Nimmerwiedersehen. Der ist längst über die Grenze. Staatsanwalt Suter tobt. Und Haller ist ein gebrochener Mann.«
»Habt ihr ihn international ausgeschrieben?«
»Ja, noch am Freitagnachmittag haben wir nach Bern gefaxt. Das musste wohl sein.«
»Wenn sie ihn jetzt schnappen«, sagte Hunkeler, »bekommt er mindestens fünf Jahre Zuchthaus. Und keine Rede von Bewährung.«
»Ich mag ihn doch auch«, sagte Madörin leise, »ich habe ihn sogar richtig gern bekommen. Ehrenwort. Aber er hätte eben reden müssen. Das hat er nicht getan. Im Gegenteil. Er hat steif und fest abgestritten, von seinem Großonkel Geld bekommen zu haben. Warum? Hast du vielleicht eine Ahnung?«
Hunkeler schluckte leer. Nein, er wollte nicht. Ums Verrecken nicht. »Vielleicht wollte er ihn schützen. Raushalten aus allem, über das Grab hinweg.«
»Das ist genau das, was ich nicht verstehe. Dem wäre doch kein Zacken aus der Krone gefallen, dem alten Mann. Besonders jetzt, wo er tot ist. Man müsste ihn eben fragen können, aber das kann man leider nicht mehr. Es wäre übrigens gut, wenn du Montagmorgen vorbeikommen könntest. Vor allem wegen Suter, der führt sich auf wie ein wildgewordener Büffel.«
»Nein«, sagte Hunkeler, »das ist nicht mein Fall.« Er schaute hinaus zum Basler Dybli, das dicht am Kleinbasler Ufer flussaufwärts fuhr. »Ich kann ja am Nachmittag auf den Friedhof kommen. Als
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