Hurra, die Lage wird ernst
und wenn ich bisher
alle die hatte sitzenlassen, die mir für ein Weilchen Liebe und Heim geboten
hatten, diesmal war ich der Dumme. Ja, so ging das in meinem Leben. Das ist die
ausgleichende Gerechtigkeit, würde Großmutter Rosenstock dazu gesagt haben,
aber daran glaubte ich nicht, sonst müßten viel mehr große Hunde gebissen
werden, weil sie es doch meistens sind, die Bisse austeilen.
An die Zeit im Hundeasyl wollte ich
mich nicht erinnern, sie war gar zu traurig, und an Anja, meine heißgeliebte
Retterin, konnte ich nicht denken, ohne mir der Traurigkeit meiner jetzigen
Lage bewußt zu werden. Auch war es mir fast nicht mehr möglich, meine Gedanken
zu sammeln. Ich war müde, entsetzlich müde. Mochte kommen was da wollte, jetzt,
da ich meine Vergangenheit bewältigt hatte, gab es nichts mehr, worin meine
Gedanken hätten wühlen können, außer in der Zukunft, und die war mir zu
ungewiß. So schloß ich die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf.
Als mein linkes Augenlid sich hob
und das darunterliegende noch verschlafene Auge wieder den ersten Kontakt mit
der Außenwelt aufnahm, blinzelte mich durchs staubige Fenster die Sonne an, und
es dauerte gar nicht mehr lange, da kam Leben in den Garten. Ich spürte es
mehr, als daß ich es tatsächlich merkte. Es war eigentlich nichts weiter als so
ein unbestimmtes Gefühl, das mir sagte: Da draußen ist jemand. Und plötzlich
hörte ich auch etwas. War das nicht Anjas Stimme?
»Schuuuuuf — teeeeel!« rief die
Stimme. Ja, jetzt konnte ich sie verstehen. Sie klang, als sei sie sehr weit
entfernt, so ungefähr, als käme sie aus einem Radio, das irgendwo nebenan
stand, und das jemand sehr leise eingestellt hatte.
Da war von der Verschlafenheit
natürlich plötzlich keine Rede mehr. Jetzt war ich an der Reihe. Ich mußte ihr
den Weg zu mir weisen. Ich sauste von meinem Nachtquartier an die Tür und
kläffte und kläffte und kläffte.
Wenig später hörte ich Schritte. Sie
kamen näher, noch näher, blieben vor meinem Gefängnis stehen. Und dann sah ich
Anjas Gesicht durch die Scheiben hindurch, klein und fleckig, so sah es von
innen aus. Sie drückte ihre Nase daran platt wie ein kleines Mädchen an einer
Schaufensterscheibe.
»Bist du da drin, Schuftel?« fragte
sie zaghaft. Da wurde ich wild. Wild vor Sehnsucht nach ihr, wild vor Wut, daß
man mich überhaupt hier eingesperrt hatte und wild vor Freude, daß ich jetzt
herausgelassen würde. Ich tat alles, was ein kleiner Hund nur tun kann, um sich
bemerkbar zu machen. Ich bellte und scharrte und quietschte und winselte.
»Sei jetzt schön ruhig, Anja holt
dich gleich«, hörte ich ihre vertraute Stimme sagen, dann ging sie wieder weg.
Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, Anja hatte es mir versprochen. Gleich
würde ich auch das Extraleckerchen von ihr kriegen, das sie mir gestern in
Aussicht gestellt hatte. Zum Glück hatte ich in all den verflossenen Stunden
nicht daran gedacht, sonst wäre mir bestimmt das Wasser im Maul
zusammengelaufen. Jetzt würde alles wieder wunderbar sein. Ich freute mich
darauf, mich im Gras zu wälzen, auf den ersten Spaziergang mit Anja freute ich
mich, auf die erste anständige Mahlzeit, die sie mir wieder bereiten würde, auf
alles, alles. Das Leben war doch schön.
Jetzt war alles nur noch halb so
schlimm. Anja würde mich retten, zum zweitenmal würde sie mich aus einem Gefängnis
befreien. War das nicht ein Grund, glücklich und zufrieden zu sein und alle
Unbill dieser Welt zu vergessen? Zwar hatte ich die ganze lange Nacht gewartet,
diese letzten Minuten aber zogen sich unerträglich in die Länge. Jetzt war ich
ungeduldig und wollte endlich hinaus.
Plötzlich ging alles sehr schnell.
Anja kam wieder zurück, allerdings nicht allein. Gab es in diesem Hause jemand,
dem sie ihre Entdeckung anvertrauen konnte? Es rüttelte an der Tür und eine
Männerstimme stellte fest:
»Abgeschlossen.«
»Was jetzt?« Anja schien
verzweifelt. Ich hörte, wie die Schritte der beiden um das Häuschen tapsten und
wieder vor der Tür haltmachten. Anja rief mir von außen zu:
»Geh von der Tür weg, Schuftel, geh
weg«, und dann krachte es fürchterlich, kaum daß ich ein paar Schritte
zurückgetreten war. Ich wartete gar nicht, bis das Loch in der Tür groß genug
war, meine Befreier durchzulassen. Als die ersten Latten fielen, stob ich nach
draußen. Im Grunde hätte ich mich gerne von Anja herzen und drücken lassen,
aber ich war viel zu erregt, um ruhig stehenzubleiben und die
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