Hutch 02 - Die Sanduhr Gottes
so sieht es bei jedem aus.«
»In Ordnung«, sagte Hutch. »Vergessen Sie meine Nachrichten für den Augenblick. Wie wäre es, wenn einer Ihrer Leute mit den anderen spricht? Vielleicht gibt es bestimmte Namen, nach denen Sie Ausschau halten könnten.« Sie dankte ihm und verabschiedete sich. Nightingale starrte sie an, und sie sah, wie sich ein Urteil in seinem Kopf bildete: In Ihrem ganzen Leben gibt es keine Person, von der Sie in einer solchen schweren Zeit etwas hören wollen?
Von ihrer direkten Verwandtschaft war nur ihre Mutter noch am Leben. Die Beziehung zwischen ihnen war jahrelang angespannt gewesen, weil Hutch sich nicht häuslich niedergelassen und eine Familie gegründet hatte, wie jede normale junge Frau. Obwohl Hutch natürlich gar nicht mehr so jung war, eine Tatsache, die ihrer Mutter vollends zu entgehen schien. Oder ihre Torschlusspanik noch verstärkte. Hutch mochte im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte sein, wie es die Menschen routinemäßig in der ersten Lebenshälfte waren, aber sie hatte längst die glückliche Unschuld abgelegt, die man von einer Braut erwarten mochte.
Sie war weit genug herumgekommen, um genau zu wissen, was sie vom Leben wollte, und sie war überzeugt, dass man ziemlich früh heiraten sollte, wollte man wenigstens eine Chance haben, eine erfolgreiche Ehe zu führen. Die Partner mussten gemeinsam wachsen. Sie aber wusste, was sie von einem Mann erwartete, und so eine Kreatur würde in Gefangenschaft schlicht und einfach nicht überleben. Wenn sie also allein blieb und sich manchmal einsam fühlte, war sie wenigstens nicht einsam in der Ehe, was in ihren Augen der schlimmste anzunehmende Zustand war. Außerdem mochte sie ihre Unabhängigkeit.
Mom hatte das nie verstanden. Hatte es nie verstehen wollen.
Hutch betrachtete ihr Notebook. Dann, endlich, wenn auch widerstrebend, klappte sie es auf und fing an, eine Nachricht zu tippen.
Mom,
Wie es aussieht, bleiben uns nur noch ein paar Tage.
Die Dinge haben sich nicht so entwickelt, wie wir es uns gewünscht hatten. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf. Wenn du diese Nachricht erhältst, wirst du bereits wissen, wie es ausgegangen ist.
Sie dachte nach, schrieb ein wenig mehr, entschuldigte sich dafür, nicht die Tochter gewesen zu sein, die ihre Mutter sich gewünscht hatte, erklärte, dass sie ihr Leben genossen hatte und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, ihre Mutter würde verstehen, dass sie, Priscilla, es nicht anders gewollt hätte.
Da die Schwelle einmal übertreten war, schrieb sie noch einigen anderen, vorwiegend Leuten, die etwas mit der Akademie zu tun hatten. Sieht im Augenblick nicht sehr vielversprechend aus.
Es war eine gute Zeit.
Ich habe letzte Nacht an dich gedacht …
MacAllister blickte sich über die Schulter um und lächelte. »Seien Sie vorsichtig, Priscilla. Sagen Sie nichts, was Sie nicht halten können, wenn Sie zurückkommen.«
Es gab niemanden, mit dem sie so etwas wie eine romantische Beziehung geführt hätte. Sicher, es hatte Männer gegeben im Lauf der Jahre. Einer war tot. Die anderen lebten glücklich verheiratet im spießigen New Jersey oder irgendeinem Ort im Westen.
Still saß sie da und überlegte, was sie alten Freunden erzählen konnte, und plötzlich empfand sie Bedauern wegen Dingen, die sie nicht getan hatte. Menschen, mit denen sie nicht genug Zeit verbracht hatte. Die große Liebe, die nie gekommen war. Das Kind, das nie geboren wurde.
Nun, da sie ihrem möglichen Ende entgegensah, kam ihr ihr Leben sonderbar unvollständig vor. Irgendwo hatte sie einmal gehört, dass Menschen, wenn der Tod nahe war, nicht ihre Taten bedauerten, die diversen armseligen oder kleinlichen Handlungen, die gelegentlichen Unsittlichkeiten oder die wiederkehrenden Grausamkeiten gegenüber Dritten. Sie bedauerten stattdessen, was sie nicht getan hatten, Abenteuer, die sie nicht erlebt, Erfahrungen, die sie nicht gekostet hatten, sei es aufgrund eines falschen Moralbegriffs oder, was wahrscheinlicher war, aufgrund von Schüchternheit oder Furcht oder Nachlässigkeit.
Sie lächelte vor sich hin. MacAllister hatte in diesem Zusammenhang irgendwann von der Furcht, erwischt zu werden, gesprochen.
Kapitel XXVII
»Wenige Tugenden sind wahrhaft nützlich. Treue führt zu verpassten Gelegenheiten, Wahrheitsliebe zu verletzten Gefühlen, Wohltätigkeit zu Bettelei. Am unproduktivsten und vermutlich am meisten überschätzt ist aber der Glaube. Die Gläubigen verleugnen jegliche
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