Hymne an Die Nacht
ich jetzt eine sehr taktlose Frage gestellt?«
Joannas Haut färbte sich rosig, rasch wandte sie sich ab. »Mein Vater und ich stehen uns sehr nahe, aber das heißt nicht, dass ich ihn um Erlaubnis fragen muss, egal, worum es geht. Und was meine Mutter betrifft: auch wir haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander, nur war es eben so abgemacht, dass mein Vater und ich diese Reise ohne sie machen.« Trotzig starrte sie ihn an.
»Aha«, nickte er, »und wo ist deine Mutter jetzt?«
»Sie ist in Deutschland, zuerst hat sie Freunde besucht, und jetzt macht sie so eine Wellnesskur«, schwindelte sie.
»Aber sie ist doch keine Deutsche, oder? Sie ist gebürtige Engländerin wie du.«
»Woher weißt du das?«
»Radu hat es mir erzählt, glaube ich.«
»Was spielt das für eine Rolle?« Joanna gefiel nicht, wie sich das Gespräch entwickelte. Sie runzelte die Stirn. »Wir kennen uns kaum, und schon versuchst du mich auszufragen.« In dem Moment, als sie den Satz ausgesprochen hatte, ärgerte sie sich über sich selbst. Wenn sie weiter so empfindlich reagierte, würde er schnell bemerken, dass sie nicht nur wenig weltgewandt war, er könnte auch spüren, dass sie etwas vor ihm verbergen wollte. »Tut mir leid«, sagte sie in versöhnlicherem Ton, »es war nicht so gemeint. Es ist nur …«
»Ja …?« Seine Augen fixierten sie unerbittlich.
»Diese Reise nach Transsylvanien ist für mich zwar ein ganz spannendes Abenteuer«, improvisierte sie rasch, »aber ich finde das alles auch irgendwie mühsam. Mein Vater war seit dem Ende des kommunistischen Regimes nicht mehr hier, und dann kommt er zurück, will mir seine alte Heimat zeigen und findet sich nicht mehr zurecht.«
»Ich verstehe«, sagte Vadim nachdenklich. »Was weißt du denn über die Geschichte seiner Familie?«
Jetzt würde sie mehr erzählen müssen, als sie vorgehabt hatte, doch ihr blieb nichts anderes übrig, sonst wäre sie nicht glaubhaft. »Ehrlich gesagt, nicht viel«, sie blickte zu Boden, »Stanislaw und ich kennen uns noch nicht so lange. Er ist zwar mein leiblicher Vater, aber er und meine Mutter haben sich vor meiner Geburt getrennt. Meine Mutter hat dann einen spanischen Arzt geheiratet, der mich adoptiert hat, daher bin ich an der Costa del Sol aufgewachsen. Durch einen unglaublichen Zufall bin ich dort Stanislaw begegnet, und seit einiger Zeit wissen wir, dass wir Vater und Tochter sind.«
Er betrachtete sie sinnend. »Glaubst du an Zufälle? Oder ist alles vorherbestimmt? Das klingt jedenfalls nach einer interessanten Familiengeschichte. Und was wurde aus deinem Adoptivvater? Wie hat er das Ganze aufgenommen?«
»Er ist vor einem Jahr an Krebs gestorben«, erwiderte Joanna leise.
Vadim schlang den Arm um ihre Taille und drückte sie an sich. »Das tut mir leid, du scheinst ihn sehr gemocht zu haben.«
Sie blickte mit feuchten Augen zu ihm auf und nickte.
»Und was ist mit dem Grafen Stanislaw?«
»Mein Adoptivvater war ein wunderbarer Mensch, dem ich bis an mein Lebensende dankbar sein werde, und ich werde nie vergessen, was er für mich getan hat. Mir ist auch klar, dass Blutsverwandtschaft allein noch keine Bindung erzeugen muss. Doch von dem Moment an, als Stanislaw und ich uns besser kennenlernten, spürten wir immer mehr, wie ähnlich wir uns sind.«
Sie blickte in die Ferne, ihre Stimme war weich geworden.
»Wie rührend!« Vadims spöttische Worte holten Joanna ins Hier und Jetzt zurück. Bevor sie etwas erwidern konnte, sagte er: »Ich finde es ziemlich seltsam, dass du so über den Mann sprichst, der deine Mutter im Stich gelassen hat, bevor du geboren wurdest. Und dann begegnest du ihm rein zufällig in Marbella und hast nichts Besseres zu tun, als festzustellen, welche Gemeinsamkeiten euch verbinden? Das solltest du mir erklären, Joanna, ich verstehe es nämlich nicht.«
Sie starrte ihn an, als habe sie ihn nie zuvor gesehen. Gleichzeitig spürte sie, wie Stanislaw sich in ihre Gedanken drängte. Gib deinem Zorn jetzt nicht nach, denk an Bukarest, denk an die zersprungene Scheibe!
Stanislaw. Er kontrollierte sie also. Jetzt reichte es ihr. Sie wandte sich ab und verließ den Saal mit festen Schritten. Ein paar Gäste in der Nähe, die sie beobachtet hatten, sahen ihr hinterher. Vadim machte keinen Versuch, ihr nachzugehen. Um seine vollen Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns, und wer genau hinsah, entdeckte das berühmte Grübchen in seinen Mundwinkeln.
Siebzehn
Als Joanna hastig die Treppe
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