Hymne an Die Nacht
Hoffe, bei euch läuft alles wie erwartet. Herzlich, Tomas.
Freue mich sehr für dich
, schrieb sie spontan zurück,
habe es schon von meinem Vater gehört. Alles Gute und viel Erfolg!
Sie hatten die Ausläufer der Stadt erreicht. »Cornel, bitte setzen Sie mich bei dem kleinen Park vor dem Hotel ab, ich möchte noch ein paar Schritte gehen.«
Er nickte und fuhr weiter, bis sie den Park erreicht hatten.
»Danke, Cornel«, sagte sie in freundlichem Ton, »gute Nacht.«
»Gute Nacht, Miss Joanna.«
Sie blieb stehen, bis Cornel den Wagen gewendet hatte, dann ging sie bis zu der Bank, auf der sie Stanislaw an jenem Abend mit der jungen Rumänin entdeckt hatte, und setzte sich. Zum Glück war niemand in der Nähe, und sie konnte ungestört ihren Gedanken nachhängen.
Stanislaws Worte fielen ihr wieder ein, als er von Tomas gesprochen hatte. Nach dem Abend mit Vadim konnte sie umso besser verstehen, weshalb er sie lieber mit jemandem wie dem jungen Geschichtsprofessor zusammengesehen hätte, doch sie wusste genau, dass sie einen anderen Weg vor sich hatte. Es würde kein gerader Weg sein, der in eine gutbürgerliche Existenz mündete, mit einer erfolgreichen beruflichen Karriere als Ärztin, mit einem zuverlässigen Partner als Ehemann, mit wohlgeratenen Kindern.
Auf sie wartete etwas, das sie nur vage erahnen konnte, etwas, das ihr zwar nicht wirklich Angst machte, das sie aber dennoch beunruhigte. Erneut sah sie sich mit Vadim in dem Restaurant, das sie fast fluchtartig verlassen hatte. War sie zu unnachsichtig gewesen, hatte sie übertrieben heftig reagiert?
Aber dann dachte Joanna wieder daran, wie wenig er sie als Person wahrgenommen hatte, wie selbstverliebt er sich gezeigt hatte und wie abschätzig seine Äußerungen über Radu Nicolescu gewesen waren, Gründe genug, sich künftig von ihm fernzuhalten. Und doch war da noch immer dieser Sog, der sie auch jetzt machtvoll zu ihm hinziehen wollte, sosehr sie sich dagegen wehrte.
Sie wusste nicht genau, was es war. Er hatte sie begehrt, und trotz der fast gewaltsamen Art, mit der er über sie hergefallen war, hatte sie es genossen. Oder war es sogar gerade deshalb so gewesen? Hatte es etwas mit dem väterlichen Vampirerbe zu tun, nur dass hier die Rollen umgekehrt waren? Weil es auch hier um Macht ging und sie sich lieber in der Rolle des Opfers gesehen hatte?
Verstörende Fragen, auf die sie keine Antwort fand.
Langsam stand sie von der Bank auf und spürte erst jetzt die Kälte in ihren steifen Gliedern. Sie würde in dieser Nacht nicht gut schlafen. Doch bevor sie ins Bett ging, wollte sie Stanislaw Bescheid geben, dass sie zurückgekehrt war.
Einundzwanzig
Stanislaw und Radu Nicolescu saßen noch in der Hotelbar zusammen. Vor Stanislaw stand ein Glas Karpatenrotwein, und als Radu zur Toilette ging, gab er mit der Pipette einige Tropfen aus dem Fläschchen hinein, das er immer bei sich trug.
In eine der wenigen Gesprächspausen hinein sagte Radu: »Graf Stanislaw, ich mache mir Sorgen wegen Joanna. Sie ist viel zu schade für einen wie Vadim.«
»Ich kenne meine Tochter, Radu«, unterbrach ihn Stanislaw, »sie hat sich heute Abend nur deshalb mit ihm verabredet, weil er sie so sehr darum gebeten hatte, und nach der gestrigen Einladung zu seiner Party wollte sie nicht unhöflich erscheinen. Außerdem ist sie alt genug.«
Radu schien nicht überzeugt. »Ist Joanna von diesem Treffen schon zurückgekehrt?«
In dem Moment kam eine Hotelangestellte auf die beiden Männer zu. »Graf Lugosy?«, fragte sie. »Ich habe eine Nachricht für Sie.«
Stanislaw nickte und nahm den zusammengefalteten Zettel entgegen.
Akku vom Handy ist leer
, stand darauf,
bin schon im Bett, habe Igor zu mir genommen. Bis morgen, Love, Joanna
.
Lächelnd reichte er die Notiz weiter. »Nur, damit Sie es wirklich glauben.«
Der Regisseur las den kurzen Text und runzelte die Stirn. »Was, zum Teufel, ist da passiert? Hat Vadim es wieder mal vermasselt, oder ist Ihre Tochter wirklich so gescheit? Oder ist es eine Mischung aus beidem?«
Darauf wollte Stanislaw nichts erwidern. Bestimmt hatte Joanna sehr schnell erkannt, dass sie bei jemandem wie Vadim vorsichtig sein musste. Andererseits war nicht zu übersehen gewesen, welche Faszination der Schauspieler auf sie ausübte. Also wusste Stanislaw jetzt selbst nicht, was er von ihrer unerwartet frühen Rückkehr halten sollte.
Auf Radus insistierenden Blick sagte er schließlich: »Joanna ist kein Kind mehr, ich kann ihr keine
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