Hymne an Die Nacht
mich ist sie trotzdem die Tochter eines Grafen. Die Blutsbande sind entscheidend.«
Kopfschüttelnd konzentrierte sich Vadim auf sein Früh- stück, und während er über die jüngsten Geschehnisse nachdachte, überkam ihn ein unerwartetes Gefühl: Er wünschte sich, Joanna wäre bei ihm. Er sah ihre feingeschnittenen Züge vor sich, zu denen nur der etwas zu breit geratene Mund nicht so recht passen wollte, er stellte sich ihre grünlichen Augen mit den goldfarbenen Sprenkeln vor, und er phantasierte sich eine Situation herbei, in der er ihr rotblondes Haar zerwühlen würde. Die Szene in der Gästetoilette wurde so gegenwärtig, als erlebte er sie in allen Einzelheiten aufs Neue. Er streckte sich wieder auf dem Laken aus, und seine rechte Hand glitt unter die Bettdecke, als sein Handy summte.
»Vadim? Hier ist Joanna.« Sie klang verlegen.
Mit einem Ruck setzte er sich auf. »Ich freue mich so, dass du mich anrufst, Joanna!«
»Vadim … es tut mir leid wegen gestern Abend. Ich hätte nicht einfach gehen sollen«, sagte sie atemlos.
Er schwieg einen Moment. »Wie wäre es mit einem neuen Versuch? Wo bist du gerade?«
»In Brasov, im Hotel.«
»Bitte rühr dich nicht von der Stelle, in spätestens einer halben Stunde ist Cornel dort, um dich abzuholen, ich warte hier auf dich. Einverstanden?«
»Vadim, ich …, ja, einverstanden.«
Er legte auf und rief Cornel über das Haustelefon an. »Bitte fahr runter in die Stadt und hol Joanna in ihrem Hotel ab. Wie? Nein, ich erklär es dir später. Und beeil dich, bevor sie es sich womöglich wieder anders überlegt oder der gräfliche Vater dazwischenfunkt. Ich verlass mich auf dich, Cornel.«
Er schwang sich aus dem Bett. Innerhalb weniger Minuten hatte er seine Morgentoilette hinter sich gebracht. Als er frisch geduscht vor dem Spiegel stand, kämpfte er einen Moment lang mit sich, ob er den Schrank dahinter öffnen solle, um vor Joannas Eintreffen noch eine Linie Kokain zu nehmen. Zögernd streckte er die Hand aus, doch dann zog er sie zurück und fuhr sich mit der Bürste durch das dichte Haar. Er ging zu seiner begehbaren Garderobe, schlüpfte in Jeans und ein schlichtes weißes Hemd und warf einen prüfenden Blick auf die Szenerie in seinem Schlafzimmer. Der Raum hatte großzügige Ausmaße, wirkte durch die Erkerfenster aber zugleich intim und behaglich. Er war sparsam möbliert, außer dem überbreiten Bett mit dem geschnitzten Kopfteil gab es nur einen bequemen Sessel und einen kleinen modernen Tisch daneben, beides von einem bekannten Designer entworfen. Sein Blick fiel auf die zerwühlten Laken. Über das Haustelefon bat er die Angestellte, die dafür zuständig war, sofort alles herzurichten und das Bett neu zu beziehen.
Dann ließ er die nachtblauen Stoffrollos wieder halb herunter, schaltete die venezianischen Ampelleuchten ein und dimmte sie herab, bis sie nur noch ein schwaches Stimmungslicht verbreiteten.
*
Als Cornel den Wagen startete, um in die Stadt hinunterzufahren, verstand er die Welt nicht mehr. Die Komtess hatte dem erfolgsverwöhnten Junior doch ganz offensichtlich zunächst widerstanden, obwohl Cornel noch immer nicht wusste, was am Abend der Party zwischen den beiden wirklich vorgefallen war.
Als die junge Frau ihn gebeten hatte, sich an einem diskreten Ort frisch machen zu können, hatte er eine Weile darüber gegrübelt, was sich hinter diesem Wunsch verborgen haben mochte, aber dann hatte er es doch nicht so genau wissen wollen.
Am nächsten Abend hatte sie sich unerwartet früh im Restaurant abholen und ins Hotel zurückfahren lassen, was Cornel mit stiller Genugtuung erfüllt hatte. Endlich gab es eine junge Frau, die genügend innere Stärke besaß, um sich gegen Vadims immer gleiche Verführungsmasche zu wehren.
Und nun das. Über Nacht musste sie es sich anders überlegt haben, so, als habe Vadims Zauber mit verzögerter Wirkung doch noch gewirkt.
Cornel machte die Eskapaden des Juniors nur deshalb so bereitwillig mit, weil er dem Alten vor dessen Tod versprochen hatte, sich um Vadim zu kümmern. Für diese Zusage war er mit einem Vermächtnis bedacht worden, von dem er bequem bis ans Ende seiner Tage leben konnte, doch nicht nur deshalb nahm er seine Aufgabe sehr ernst. Cornel betrachtete sich als Mann von Ehre. Das, was er seinem früheren Dienstherrn versprochen hatte, galt für ihn bis zuletzt.
Und in einem Punkt hatte Vadim recht: an jemand wie Cornel war die Zeit des sozialistischen Regimes abgeglitten, als habe
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