Hype: Thriller (German Edition)
Fahndungstruppe, im Rauschgiftdezernat oder bei der Sitte gab es solche Ereignisse. Typische Polizeifälle also, aber dennoch hatte Rebecca den Eindruck, dass MayBey alles andere als ein typischer Polizist war.
Außerdem gab es inzwischen noch etwas anderes, das ihr Kopfzerbrechen bereitete.
Der Brief hatte auf dem Flurteppich gelegen, als sie nach Hause gekommen war. Ein schmales weißes Kuvert aus einem etwas dickeren Papier, das sie seit Langem nicht mehr gesehen hatte.
Ihre Adresse war mit einer akkuraten, altertümlichen Schrift notiert, die ihr so bekannt vorkam, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte. Sogar die gestelzte Sprache war dieselbe. Aber der Brief war natürlich nicht von ihrem Vater.
Liebe Rebecca,
ich hoffe, Du verzeihst mir meine Aufdringlichkeit, aber es ist mir zu Ohren gekommen, dass Du aufgrund eines Vorfalles in der Darfur-Region im westlichen Sudan in Schwierigkeiten geraten bist. Meinen Quellen zufolge bist Du vom Dienst suspendiert während der Ermittlungen, und deshalb kontaktiere ich Dich.
Die schwedische Polizei ist aller Wahrscheinlichkeit nach auf die offiziellen Kanäle angewiesen, was bei Weitem nicht immer der beste Weg ist, um die Wahrheit herauszufinden.
Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen, und manchmal verlangt es eine andere Vorgehensweise, um Klarheit in eine Angelegenheit zu bringen, die auf den ersten Blick so einfach erscheint. Seit vielen Jahren verfüge ich über ein breites Kontaktnetz in Afrika, und es würde mich daher sehr freuen, wenn Du mich diese Sache für dich untersuchen lassen würdest, selbstverständlich mit äußerster Diskretion.
Ich füge meine E-Mail-Adresse bei und hoffe, dass Du mein Angebot in Erwägung ziehst.
Herzlich,
Tage Sammer
*
Nun war es also offiziell.
Es hatte ihn schon gewundert, dass noch niemand von Annas Tod gewusst zu haben schien. Sofern sie ihm jetzt nicht irgendetwas vorspielten.
Einige der weiblichen Mitarbeiter, darunter Eliza Poole und Rilke, hatten jedenfalls Tränen in den Augen. Andere reagierten gefasster. Er versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen, während er insgeheim die anderen beobachtete.
Ein Unglück also – kein Mord. Woher kam wohl diese zurechtgeschusterte Geschichte? Hatten die Dubaier ein Ablenkungsmanöver gestartet, oder hatte Philip ganz einfach beschlossen, dass es besser für die Moral des Teams und das Geschäft wäre, sich an eine etwas softere Version von Annas Dahinscheiden zu halten?
Kurz huschten vor seinem inneren Auge die schwarzen Aasvögel und ihre kleine Einladung zum Abendschmaus vorüber.
Als er wieder den Kopf hob, stellte er fest, dass Monika Gregerson ihn anblickte. Ihr Gesichtsausdruck wirkte fast angeekelt, so als könnte auch sie die Bilder sehen, die auf seiner Netzhaut erschienen waren. HP unterdrückte einen Schauer. Er wandte den Blick ab und ging mit raschen Schritten zum Pausenraum. Eine Tasse erstklassigen Automatenkaffees würde ihn auf neue Gedanken bringen.
Im Flur stieß er auf Dejan und Philip, die in eine Diskussion vertieft schienen.
»… Annas Aktien?«, schnappte HP auf.
»Die erbt Monika«, antwortete Philip knapp, verstummte und nickte HP zu, als der gezwungen war, an ihnen vorbeizugehen.
»Ich sehe nicht, wo das Problem liegen soll«, fuhr er leise fort, bevor HP wieder außer Hörweite war.
Okay, sowohl die Todesnachricht als auch Monika Gregerson waren recht unbehaglich gewesen, aber das Gute an der Geschichte war, dass er jetzt den Trostspender für Rilke spielen durfte. Er umarmte sie und bot ihr eine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Das nahm sie dankbar in Anspruch, bevor alle für den Rest des Tages nach Hause geschickt wurden.
HP überraschte sich dabei, wie er an seinem Hemdkragen nach Duftresten von ihrem Haar schnupperte. Rilke war unleugbar etwas Besonderes. Hübsch, klug und humorvoll – es war eine Freude, mit ihr zu arbeiten und in ihrer Nähe zu sein. Mist, er musste aufpassen, dass er nicht von einer Art umgekehrtem Stockholm-Syndrom gepackt wurde.
Denn sie könnte eine Verdächtige sein – zumindest rein theoretisch. Immerhin hatte er ein paar neue Dinge erfahren. Erstens: Annas große Schwester hatte in der Firma gearbeitet, aber irgendwann aufgehört, weil sie mit Philip nicht mehr zurechtkam. Niemand hatte das offen ausgesprochen, aber er hatte es deutlich herausgehört.
Zweitens: Sein Eindruck, dass Annas Tod mit dem Unternehmen zu tun hatte, hatte sich noch verstärkt. Warum sollte man denn
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