Hypnose
erzählen. Die Krankheit ihres Vaters ist für sie schon belastend genug. Zu erfahren, dass ihr Vater ein Hochstapler ist, würde sie nicht verkraften. Deshalb habe ich von einer Anzeige zunächst auch wieder Abstand genommen. Wie ihre Schwester war Evelyn ein absolutes Papa-Kind, noch heute steht ihr Vater für sie auf einem hohen Sockel, an ihm hat sie sich orientiert und ihr Leben aufgebaut. Wenn diese Säule mitsamt dem Lügengebäude einstürzt, würde das meine Frau sehr schwer treffen. Ihnen musste ich diese Sache jetzt allerdings anvertrauen, um meine Position wieder ins rechte Licht zu rücken. Ich hoffe, Sie sind nun wieder bereit, mir zu vertrauen und mit mir therapeutisch zu arbeiten.«
Inka zögerte. Ihr Blick wurde unscharf, und sie rief sich das Gespräch mit Brunner im Patientenzimmer der Psychiatrie ins Gedächtnis. Ihr ging noch einmal durch den Kopf, dass er sie ausdrücklich vor Brinkhus gewarnt hatte. Wie kam Brunner dazu, seinem Schwiegersohn die Durchführung von Experimenten zu unterstellen, wenn das nicht der Wahrheit entsprach?
Inka richtete ihren Fokus wieder auf den Therapeuten. »Halten Sie es für möglich, dass Ihr Schwiegervater sich an Ihnen rächen will, weil Sie seinen Schwindel aufgedeckt haben?«
»Rächen ist bei seinem Krankheitsbild das falsche Wort. Aber es findet eine Form der Verarbeitung statt, wenn er mich nun als böse hinstellt und mir unterstellt, ich würde Menschen unter Hypnose zu einem Mord anstiften.«
Inka stutzte und zog fragend die Stirn in Falten.
»Ich weiß das von meiner Frau«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. »Es stimmt, ich mache im Dienste der Wissenschaft Untersuchungen – oder wie er es wahrscheinlich nennt, Experimente – zur Trancetiefe meiner Patienten, um festzustellen, weshalb sich manche Patienten leichter in Hypnose versetzen lassen als andere und was die Ursache für eine besonders tiefe Trance ist. Allerdings mit dem Einverständnis meiner Patienten! Schon in meiner Doktorarbeit habe ich mich mit der Willensbeeinflussung durch posthypnotische Suggestionen beschäftigt. Ein spannendes wissenschaftliches Feld und Grundlage meiner therapeutischen Arbeit. Aber, und das müssen Sie mir glauben, ich würde niemals einen Menschen unter Hypnose zu einem Mord anstiften!
Ich bringe beispielsweise höchstens meine Patienten dazu, einen Arm unwillkürlich zu heben und zu senken, ich arbeite mit Amnesien und natürlich auch mit posthypnotischen Suggestionen. Schließlich muss ich Angstpatienten Befehle und Handlungsaufforderungen für den Alltag erteilen – anders könnte ich ihnen wohl kaum die Rückkehr in ein geregeltes Leben ebnen. Ich bin Therapeut – kein Auftragskiller«, sagte er mit einem souveränen Lächeln. »Frau Mayer, es ist wichtig, dass Sie weiter in Behandlung bleiben. Sie haben durch den Verlust Ihres Babys ein schweres Trauma erlitten, und dieses müssen Sie verarbeiten. Ein Trauma setzt einen Prozess in Gang, der das Gehirn sozusagen in die Klemme bringt und die Seele nötigt, auf besondere Weise damit umzugehen. Die Frage, die sich dem Betroffenen stellt, ist: zu fliehen oder zu kämpfen.«
»Natürlich will ich kämpfen …«, sagte Inka kleinlaut.
»Das weiß ich. Aber Ihre Seele ist geflohen. Das konnte ich in der letzten Sitzung feststellen, als ich Sie bat, sich nach der Totgeburt in Ihrem Wohnzimmer umzusehen. Ihre Wahrnehmung war eingeschränkt, das Noradrenalin sorgt als Hormon für den Fluchtreflex und ist für den Tunnelblick zuständig. Anschließend kam es zur Fragmentierung des Ereignisses.«
»Was meinen Sie damit?«
»In der letzten Stunde konnten Sie sich unter Hypnose nicht zusammenhängend an die Vorfälle erinnern. Diese Fragmentierung Ihrer Seele müssen Sie sich wie einen zersplitterten Spiegel vorstellen. Sie sehen die Scherben am Boden und wissen, dass etwas passiert ist, aber Sie können sich nicht erklären, was genau passiert ist. Sie müssen die einzelnen Scherben suchen und wieder zusammenfügen. Und ich will Ihnen helfen, diese dissoziative Störung, die Amnesie, zu überwinden. – Deshalb möchte ich mit Ihnen heute wieder zum entscheidenden Tag, dem 22. Dezember, zurückgehen, und wir wollen uns in Anknüpfung an die letzte Sitzung die Todesumstände Ihres Babys noch einmal vor Augen führen, wenn Sie denn damit einverstanden sind.«
Inka hielt den Atem an. Es war ein Gefühl, als würde ein innerlicher Sog sie kleinmachen, sie auf ihrem Sessel zusammenpressen. Sie setzte sich
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