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iBoy

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Titel: iBoy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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das Leben noch mehr zur Hölle gemacht als jetzt schon.
    Also wäre nichts tun für den normalen Tom Harvey wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen.
    Aber ob es mir nun gefiel oder nicht, ich
war
nicht mehr der normale Tom Harvey. Ich war iBoy. Ich hatte die Fähigkeit, Dinge zu tun, die vorher unmöglich gewesen wären, und es gab etwas in mir – einen Teil von mir, von dem ich nicht mal wusste, ob er mir passte   –, etwas, das mir das Gefühl gab, es wäre meine Pflicht, meine Fähigkeiten auf die bestmögliche Art einzusetzen und etwas Sinnvolles mit ihnen anzustellen. |115| Und egal woher dieses Gefühl kam, ich wusste, ich konnte dazu nicht Nein sagen.
    Ich wünschte mir nur, es wäre ein bisschen hilfreicher. Ich meine, es war ja gut und schön, dass mir dieses Gefühl vermittelte, ich müsse etwas tun – aber wie wär’s denn damit gewesen, mir gleich auch zu sagen,
was
ich tun konnte?
    Nein, in dieser Hinsicht war mir mein Gefühl überhaupt keine Hilfe. Und mein iHirn half mir auch nicht weiter. Zu entscheiden,
was
ich tun sollte, war eine Aufgabe für mein normales Hirn.
    Also machte ich die Augen zu und saß einfach da – dachte nach, stellte mir Fragen, lauschte dem strömenden Regen   …
     
    Es mussten ein paar Stunden vergangen sein, als Gram an die Tür klopfte, mich weckte und mir erklärte, sie ginge schnell noch was einkaufen. Viel nachgedacht hatte ich nicht, und das, was ich an Überlegungen zustande gebracht hatte, war nicht besonders hilfreich. Während Gram in der Tür stand und darauf wartete, dass ich ihre Frage beantwortete – eine Frage, die ich überhaupt nicht gehört hatte   –, wurde mir klar, dass ich nicht mal mehr wusste, worüber ich vorm Einschlafen eigentlich nachgedacht hatte.
    »Tommy?«, sagte Gram.
    Ich sah sie an. »Ja, tut mir leid   … was hast du gesagt?«
    »Ob du irgendwas brauchst? Weil ich jetzt einkaufen gehe   …«
    »Nein   … nein danke.«
    »Okay«, sagte sie. »Ich bin bald zurück.«
    »Hast du genug Geld?«, hörte ich mich sagen.
    »Was?«
    Ich zuckte die Schultern. »Nichts   … hab nur gemeint   …« |116| Ich rieb mir die Augen und lächelte sie müde an. »Tut mir leid, ich schlaf noch so halb   …«
    »Na, vielleicht wär’s dann besser, wenn du noch mal
richtig
schläfst.«
    »Ja   …«
    »Im Bett, nicht auf dem Stuhl.«
    »Okay.«
    »Also gut. Bis später.«
    »Ja, bis später, Gram.«
     
    Ich bin mir völlig bewusst, dass Dinge zu wissen nicht dasselbe ist, wie sie zu verstehen, deshalb war mir klar, dass mich der Zugang zu riesigen Mengen an Information nicht in ein philosophisches Genie oder so was verwandelte. Aber an diesem Nachmittag, als ich mit geschlossenen Augen in meinem Zimmer saß und überall, wo ich nur i-suchen konnte, nach Auswegen aus Grams finanzieller Situation i-suchte, begegneten mir immer wieder Cyber-Fetzen, in denen es um Moral ging – Diskussionsforen, Philosophie-Websites, Auszüge aus Büchern   –, und ich fing an zu verstehen, dass die Kategorien von richtig oder falsch nicht so klar sind, wie ich gedacht hatte. In Fragen der Moral gibt es keine natürlichen Regeln. Es gibt nichts, was
eindeutig
richtig oder
eindeutig
falsch ist. Nichts ist einfach schwarz oder weiß; alles ist von einem undurchsichtigen, tristen Grau. Wenn man genau drüber nachdenkt, hat es sogar eher eine braungraue Färbung – so einen kackbraunen Ton, der herauskommt, wenn man alle Farben im Malkasten zusammenmischt.
    Natürlich begriff ich auch langsam, dass es, wenn man etwas tun will, was man für falsch hält – oder von dem man sogar
weiß
, dass es falsch ist   –, immer irgendwelche Möglichkeiten |117| gibt, sich einzureden, es sei eben
nicht
falsch. Und so zu tun, als ob es etwas wie falsch gar nicht gibt, ist sicher am allereinfachsten.
    Um es auf den Punkt zu bringen: Egal welchen Weg ich wählte, um Grams Geldprobleme zu lösen – und mit den wachsenden iFähigkeiten in meinem Kopf wuchsen die Möglichkeiten ins Unermessliche   –, es bedeutete immer, dass ich irgendjemand anderem Geld wegnahm, Geld, das mir nicht gehörte. Und auch wenn ich mir einzureden versuchte, es wäre okay – im Innern wusste ich, dass es nicht okay war.
    Zum Beispiel konnte ich mich leicht in die Konten und Datenbanken von Grams diversen Verlegern hacken, und es wäre auch überhaupt kein Problem gewesen, die Verkaufszahlen zu ändern, höhere Verkäufe für Grams Bücher zu erfinden und so ohne jede Grundlage einen

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