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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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Irrenhauses vorzugeben.
    Wer die Werbeanzeige, die er schalten will, in eine Todesanzeige schmuggelt, die er überraschend schalten muss  – der kann sich ohne zusätzliche Kosten aus der Affäre ziehen. Der Tod als Spargehilfe, die Irrenhäuser schrecken vor nichts zurück.
    Dieser Geiz geht so weit, dass die Irrenhäuser sogar mit dem Tod ihrer eigenen Direktoren noch Geschäfte machen. Zum Beispiel verkündet ein Berliner Autohaus »in stiller Trauer« den Tod seines Gründers. 9 Doch in den Trauerchor des Anzeigentextes mischt sich eine trällernde Werbestimme: »Einem der letzten Wünsche unseres Firmengründers entsprechend, sind unsere Kunden und Freunde zum traditionellen Herbstfest am Samstag, 30. Oktober 2010, ins Autohaus (…) eingeladen.«
    Freilich handelt es sich bei dem Fest um keine Totenmesse, sondern einen knallharten Verkaufstag. Und natürlich weiß ein Autohaus, dass man auf die Tränendrüse ähnlich wie auf ein Gaspedal drücken kann: »In Anbetracht der durch den Tod verursachten schwierigen Geschäftssituation findet zur Sicherung unserer kurzfristigen Liquidität (…) ein Fahrzeug-Sonderverkauf mit drastischen Preisnachlässen statt.«
    So wird der Tod zur Werbebotschaft, zum Aufhänger für einen Sonderverkauf. Der Gründer ist gestorben; die Gier lebt weiter.
    Doch nicht nur an Geld sparen die Irrenhäuser in ihren Nachrufen, sondern erst recht an gutem Geschmack. Da bekommt ein verstorbener Mitarbeiter attestiert: »Er wird in unseren Werken weiterleben.« Um welche Werke es sich handelt, ob um Nagellack, Gallseife oder Klo-Reiniger, bleibt offen. Ob der Tod da nicht doch die bessere Wahl wäre?
    In einer anderen Anzeige erfahren die staunenden Zeitungs­leser, der Rechtsanwalt Guntram F. sei »in der 10. KW unerwartet im Urlaub verstorben«. Warum weist der Arbeitgeber so ausdrück ­lich darauf hin, dass der Mitarbeiter im Urlaub starb, noch dazu mit Beweisführung (»10. KW«)? Wurde er in seiner Firma so sehr geschunden, dass man sich vom Verdacht eines Todes durch Überarbeitung reinwaschen will?
    Und »Herr W.« wird von seinem Irrenhaus mit gebührendem Titel verabschiedet: als »Abteilungsleiter Schrankwände«. Als wäre kein Mensch gestorben, nur der Inhaber einer Funktion. Und den kann man sich natürlich, gleich einer Schrankwand, aus neuem Personalrohstoff nachzimmern.
    Dagegen ist dem Mitarbeiter »Ernst M.« ein Kunststück ge­lungen: Er wurde noch nach seinem Tod befördert, zum »Verwaltungsratspräsidenten«, dessen Tod die Firma mit »großer Bestürzung« mitteilt. Offenbar war die Bestürzung des noch lebenden Verwaltungsratspräsidenten ähnlich groß, weshalb kurz darauf eine fettgedruckte »Richtigstellung« erschien. Die Firma lässt kleinlaut verkünden: »Aus Mitarbeiter wurde Verwaltungsratspräsident, was wir sehr bedauern.«
    Den letzten Unfall kann ich erklären. Immer wieder frage ich mich, wenn ich Firmen-Todesanzeigen in der Zeitung lese: Ist der »tüchtige und liebenswerte« Mitarbeiter Heinz Schäfer, der für »stete Loyalität, menschliche Qualitäten und unermüdlichen Einsatz« gelobt wird und dessen »Tod eine nicht zu schließende Lücke reißt« – ist dieser arme Mensch nicht schon letzte Woche verstorben?
    Dann wühle ich im Altpapier und finde heraus: Letzte Woche wurde exakt derselbe Anzeigentext gedruckt – »tüchtig und liebenswert«, »nicht zu schließende Lücke« usw. Nur galt die letzte Lobpreisung einem anderen Mitarbeiter. Etliche Firmen halten es mit den Todes- wie mit den Stellenanzeigen: Man tauscht nur Namen und Position aus, der restliche Text bleibt. Nicht umsonst schrieb Robert Lembke: »Die Wahrheit über einen Menschen liegt auf halbem Wege zwischen seinem Ruf und seinem Nachruf.«
    Lassen Sie uns die Sache positiv sehen! Erstens: Viele Mitarbeiter, die ihr Arbeitsleben lang nur kritisiert wurden, kommen durch ihren Tod in den Genuss des ersten, sogar schriftlichen Lobes durch die Firma – kostbarer Proviant für die letzte Reise. Und zweitens: Wer sein Irrenhaus als Ort der Willkür, als Brutstätte der Ungerechtigkeit erlebt hat, kann angesichts der Anzeigentexte in der tröstlichen Gewissheit sterben: Im Tod sind alle gleich!
    Â§ 5 Irrenhaus-Ordnung: Der Tod eines

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