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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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Genau, als ich davon sprach?«
    Ja, er hatte sich einmal am Ohr gekratzt. Wahrscheinlich, weil es ihn dort gejuckt hat! Aber eine Hand, die zum Ohr geführt wird, gilt in der unter Personalern höchst beliebten Körpersprache-Literatur als Zeichen des Nicht-Hören-Wollens. Und wenn eine Bewerberin im frisch gelüfteten Raum die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, hat das natürlich nicht mit der Kälte zu tun, sondern nur mit einer distanzierenden Haltung …
    Wer als Bewerber aus dem Rennen fliegt, weiß nie, woran er gescheitert ist: An der Form seiner Augenbraue? An dem geschwungenen »G« in seiner Unterschrift? Oder doch daran, dass er sich in der 42. Minute des Vorstellungsgesprächs an der Nase gekratzt hat?
    Eine solche Personalauswahl ist derart dämlich, dass ich die Schädel der verantwortlichen Irrenhaus-Direktoren gerne einmal deuten würde. Natürlich von außen – drinnen wird nichts zu finden sein!
    Â§ 13 Irrenhaus-Ordnung: Mit den Köpfen von Bewerbern verhält es sich wie mit den Körpern von Models: Es kommt mehr auf die Form als auf den Inhalt an. Dieses Auswahlprinzip wird von Fachleuten »Physiognomik« genannt. Menschen, die noch denken können, sagen dazu: »Schwachsinn!«
    Ein Vampir namens Daimler
    Vier Vorgesetzte beugen sich über Listen. »Schau mal einer an«, sagt der erste, »Frau Eisele, unsere Technische Zeichnerin, war in den letzten fünf Jahren zehnmal krank. Viermal hat sie sich auf eine Grippe berufen, dreimal auf Zahnschmerzen, und zweimal – besonders interessant! – auf Übelkeit. Immer direkt vorm Wochenende!«
    Â»Das ist ja noch gar nichts«, dröhnt der nächste Chef. »Hier, schauen Sie mal auf diese Liste, das ist Herr Carlsen, einer meiner Entwicklungsingenieure. Vierundzwanzig Krankschreibungen in fünf Jahren! Siebenmal der Rücken, dreimal Kopfschmerz, ein eingewachsener Zehennagel, Unterleibsschmerzen, psychische Beschwerden und so weiter. Mehrfach vor Brückentagen!«
    Die Führungskräfte nicken sich zu wie bei einer Arztvisite am Krankenbett. Die Diagnose steht fest: Das müssen Simulanten sein. Und das einzige Medikament, das hier hilft, ist knallharter Führungsstil – und zwar in hoher Dosierung!
    Wer diese Zeilen liest, wird sich denken: »Kann doch gar nicht sein! Schließlich muss ich als Mitarbeiter in Deutschland nur meine Krankmeldung einreichen, nicht die Gründe dafür.« Aber die oben beschriebene Szene könnte sich genau so abgespielt haben – nicht in einer Klitsche, sondern beim Weltkonzern Daimler.
    Als Datenschützer das Werk in Bremen unter die Lupe nahmen, kam ihnen die Galle hoch: Zwischen 2001 und 2008 wurden Krankenlisten über Mitarbeiter geführt, inklusive der Krankheitsgründe. 28 Diese Daten wurden von den Chefs unter anderem für Führungsbesprechungen verwendet.
    Doktor Daimler interessiert sich für die Gesundheit seiner Mitarbeiter, ja schon für das Befinden seiner Bewerber. Wer in die engere Auswahl für eine Stelle kommt, muss dieselbe Prozedur wie ein schlimmer Alkoholsünder im Straßenverkehr durchlaufen: Man nimmt ihm eine Blutprobe ab. Zwar hat er sich nichts zuschulden kommen lassen, bis auf eine außerordentlich gute Bewerbung. Aber ein kluges Unternehmen baut vor! Wer will schon jemanden einstellen, dessen Blutbild bereits ankündigt, dass er in ein paar Jahren aus den Latschen kippt? Solche Zeitbomben enttarnt man lieber rechtzeitig mit den ultimativen Mitteln der Personalauswahl: Kanüle und Blutbild.
    Natürlich gibt sich der Weltkonzern galant und stellt es den Bewerbern frei, einen solchen Aderlass abzulehnen. Aber wer sich weigert, dem werksärztlichen Dienst brav den Arm zu reichen, der dürfte seine Chancen auf eine Einstellung nicht gerade erhöhen. Oder doch? Schließlich verfolgt der Autobauer ein soziales Anliegen: Der Bluttest diene der Gesundheit der Mitarbeiter, wurde einer Bewerberin gesagt. 29 Damit die Freude an der Gesundheit lange anhält, speichert der Konzern die persönlichen Gesundheitsdaten auch noch elektronisch ab. Sozusagen als vollwertigen Ersatz, falls die Krankenakte beim Hausarzt einmal verlorengeht …
    Erst als Journalisten diese Praxis aufdeckten und die baden-württembergische Datenaufsicht dem Konzern auf die Finger klopfte, gab Daimler seinen Bluthunden murrend ein Stoppsignal.

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