Ich arbeite in einem Irrenhaus
Zuhörer-Geiselhaft befreit waren. Aber sie atmeten auch schwer, weil sich der jeweilige Weihnachts-Slogan nun in ihren Köpfen festgesetzt hatte. Was sie danach auf ihrem Teller sahen, war plötzlich keine Weihnachtsgans mit Knödeln mehr – sondern eine unnötige Kostenstelle.
Doch vorletztes Jahr nahm das Weihnachtsfest einen überraschenden Verlauf, wie mir der Marketing-Assistent Herbert König (35) erzählte: »Als wir morgens in die Firma kamen, trauten wir den Augen kaum: Auf jedem Schreibtisch lag ein hübsch verpacktes Geschenk. Offenbar ein Buch.« Zuerst lasen die Mitarbeiter die beigefügte Weihnachtskarte: »Was die Mäuse können, können wir erst recht – uns verändern. Ich wünsche uns ein erfolgreiches neues Geschäftsjahr und Ihnen ein frohes Weihnachtsfest!«
Herbert König schüttelte den Kopf: »Im ersten Moment habe ich gedacht: Nun spinnt der Alte endgültig. Sieht er jetzt schon Mäuse?« Doch als er das Buch ausgepackt hatte, erklärte sich der Text: Das Geschenk war eine Management-Fibel: »Die Mäusestrategie für Manager«.
Neugierig blätterte Herbert König das Buch auf: »Mein erster Gedanke war: Das ist ein Märchenbuch, ein Geschenk für die Kinder. Die Schrift war übertrieben groß. Und manchmal bestand eine ganze Seite aus einem einzigen Merksatz.« Diese Sätze klangen äußerst simpel. Zum Beispiel stand dort: »Wer Käse hat, ist glücklich.« Oder: »Wer sich nicht ändert, kann untergehen.« Oder: »Den Käse suchen und es genießen.« 48
Bei dem Buch handelte es sich um eine »Management-Novelle«. So wird diese Gattung von den Verlagen genannt, damit sie nicht »Märchenstunde für Erwachsene« sagen müssen, was der Wahrheit näher käme. Die Botschaften dieser dünnen Büchlein sind so simpel, dass sie sich jedem Grundschüler und zur Not auch jedem »Minuten-Manager« – so der Titel eines anderen Buches – vermitteln lassen.
Die Handlung der »Mäusestrategie« ist schnell erzählt: Eine Mäusegemeinschaft lebt in einem Labyrinth, das scheinbar voll mit Käse und eine ewige Nahrungsquelle ist. Doch eines Tages geht der Käse aus. Die einen Mäuse suchen in ihrer alten Umgebung nach Nahrung. Vergeblich. Die anderen gehen auf die Suche nach einer neuen Nahrungsquelle – und werden fündig.
Mit anderen Worten: Wer neue Wege einschlägt, dem eröffnen sich neue Chancen. Diese Aussage ist etwa so überraschend wie der 31.12. als Termin für das Silvesterfest.
»Natürlich habe ich das Buch gelesen«, erzählte Herbert König. »Ich wollte schließlich mitreden.« Gemeint war: mitlästern.
Immer wieder, auf dem Flur und in der Kaffeeküche, fauchten sich die Mitarbeiter an, fuhren die Finger wie Krallen aus und riefen: »Achtung, Mäuschen, hier kommt eine hungrige Katze!« Oder sie fragten grinsend: »Ich suche Käse. Ganz dringend Käse. Wer von euch hat heute bei der Arbeit Käse gemacht? Raus damit!«
Instinktiv hatten die Mitarbeiter erfasst, dass diese Lektüre mit der Wirklichkeit so viel zu tun hatte wie ein Purzelbaum mit einem Baum.
Leider war das Geschenk nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der Weihnachtsansprache gedacht. Diesmal predigte der Irrenhaus-Direktor die Notwendigkeit des Wandels – anhand der Ausführungen im verschenkten Buch. Seine Mitarbeiter waren konzentriert wie niemals zuvor – um Lachanfälle zu unterdrücken. Eine groteske Situation, so Herbert König: »Jedes Mal, wenn er auf Mäuse und Käse zu sprechen kam, habe ich mir die Hand vor den Mund gepresst, sonst hätte ich laut losgeprustet. Ein Kollege musste einen Hustenanfall vortäuschen und sich auf den Flur retten.«
Doch einige Mitarbeiter haben sich das Vokabular des Chefs über Weihnachten hinaus gemerkt: »Die Aufstiegsgeilen haben danach bei jeder Sitzung von dem Buch gefaselt. Es fielen die Namen der Mäuse ›Wusel‹, ›Schnüffel‹ und ›Knobel‹. Der Boss war immer total begeistert. Wir haben dann unter uns gewitzelt: Du musst nur ›Käse‹ zum Chef sagen – und schon bekommst du jeden Käse von ihm bewilligt.‹«
§37 Irrenhaus-Ordnung: Wenn ein Buch und der Kopf eines Managers zusammenprallen und es klingt hohl, liegt das immer am Buch!
Die unbefleckte Empfängnis
Sag mir, was du liest – und ich sag dir, wer du bist. Wenn dieser Satz zutrifft, dann ist es um die Chefetage der deutschen Irrenhäuser nicht gut bestellt. Die Bestseller der Bosse sind keine Denkschriften von Führungsgrößen, keine visionären Werke von
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