Ich arbeite in einem Irrenhaus
Hinrichtung belauschte
Ich tippte einen Brief ab, den mein Chef, Leiter einer Anwaltskanzlei, aufs Diktiergerät gesprochen hatte – da passierte etwas Unerwartetes: Nach dem Ende des Textes begann eine weitere Aufzeichnung, nun im Flüsterton. Der Chef telefonierte mit seiner Frau. Offenbar hatte er das Diktiergerät nicht richtig ausgeschaltet.
Was ich nun zu hören bekam, ließ meine Ohren klingeln und meinen Hals anschwellen: Er zog mich und meine Kolleginnen durch den Dreck. Er bezeichnete uns als »faules Pack«, als »zu dumm zum Wasserholen« und machte sich über den Sprachfehler einer Kollegin lustig. Neu war nicht, dass er Kritik übte – das hatte er schon früher getan. Neu war, dass er es nicht sachlich tat, sondern eine Verbalhinrichtung zelebrierte. Jetzt wussten wir, wie er tatsächlich über uns dachte.
Es gab einen richtigen Aufstand im Büro; wir stellten ihn zur Rede. Er spielte den Betroffenen und meinte: »Jeder von uns sagt mal dummes Zeug. Ich dürfte doch sicher auch nicht hören, was Sie Ihren Lebenspartnern über mich erzählen!« Damit immerhin hatte er recht – seit jenem Tag verfluchten wir ihn!
Gabi Fischer, Anwaltsgehilfin
§38 Irrenhaus-Ordnung: Wer ein Auto mit 100 PS führen möchte, braucht einen Führerschein. Wer hundert Mitarbeiter führen möchte, braucht nur: hundert Mitarbeiter.
Eine Bomben-Führung
»Mein Chef findet mich gut«, sagte meine Klientin Claudia Merger (42) im Karrierecoaching. Sie arbeitete als Projektmanagerin für einen DAX-Konzern. Mit fünf Kollegen bildete sie eine Einheit und organisierte die Markteinführung neuer Produktreihen.
»Wie kommen Sie darauf, dass Ihr Chef Sie schätzt?«, wollte ich wissen.
Sie schmunzelte: »Vor ein paar Monaten hatten wir eine Morgenbesprechung – nur wir Projektmanager, ohne den Chef. Im selben Konferenzraum hatten am Vorabend mein Chef und der Oberboss getagt. Und plötzlich sagte Dieter, mein Kollege: ›Schau mal, die Chefs haben einen Flipchart-Bogen hängen lassen.‹ Neugierig sahen alle hin. Dort waren unsere Namen untereinander gelistet.«
»Eine absichtliche Botschaft ans Team?«
»Ich glaube, die haben den Bogen einfach vergessen. Unser Oberboss hat so einen Spleen: Sobald er zu reden anfängt, springt er ans Flipchart und zeichnet dazu.«
»Dann hing dort eine Botschaft, die Sie gar nicht hätten bekommen sollen?«
»Exakt! Hinter jeden Namen war ein Symbol gezeichnet. Ich und zwei weitere Kollegen waren mit einem Smilie bedacht worden. Hinter zwei anderen Projektmanagern krümmte sich ein Fragezeichen. Und beim Sechsten, bei Dieter, war ein Segelflieger gezeichnet.«
»Wie haben Sie diese Zeichnungen interpretiert?«
»Wir haben gedacht: Das sind die Noten für unsere Leistung, so sehen uns die Chefs.«
»Und welches Symbol stand Ihrer Auffassung nach wofür?«
»Bei den Smilies war die Sache klar: Die standen für Note eins oder zwei. Bei den Fragezeichen haben wir gedacht: drei oder vier.«
»Und wie haben Sie den Segelflieger gedeutet?«
»Nun, Dieter ist ein liebenwerter Kerl, aber bei seiner Arbeit umstandskrämerisch. Man bittet ihn, ein Artikeldetail zu recherchieren, und er kommt mit einer ganzen Produkthistorie daher. Er war völlig verwirrt und fragte: ›Was, bitte schön, wollen die mir sagen? Haben sie Angst, dass ich abhebe? Oder bin ich ein Überflieger?‹«
»Wie haben Sie geantwortet?«
»Gar nicht. Das war uns peinlich. Erst später in der Kantine wurde es das Gesprächsthema Nummer eins. Die einen sagten: ›Dieter soll auf eine neue Leistungshöhe gebracht werden.‹«
»Und die anderen?«
»Die waren der Meinung: Dieter soll im hohen Bogen rausfliegen.«
Diese Deutung erwies sich als richtig: Ein paar Monate später zitierten ihn seine beiden Vorgesetzten zu sich, boten ihm eine Abfindung an und schoben ihn zur Tür hinaus – was in der Abteilung für eine allgemeine Schockstarre sorgte, wie Claudia Merger berichtete: »Die Kollegen mit den Fragezeichen wollten jetzt keinerlei Verantwortung mehr übernehmen und schoben alles auf mich und den anderen ›Smilie‹-Kollegen ab. Natürlich dachten sie: Der geringste Fehler – und dann segeln wir!«
Wohlgemerkt: Diese Geschichte spielt in einem angesehenen Konzern, dessen Führungskräfte durch Assessment Center ausgewählt, durch Seminare geschult und durch Einzelcoachings unterstützt werden. Und dennoch, so scheint es, wird hier Management by Irrsinn praktiziert. Der Arbeitsplatz als Kampfarena. Die
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