Ich arbeite in einem Irrenhaus
Zukunftsforschern und schon gar nicht – pfui Teufel! – schöngeistige Bücher, etwa der Entwicklungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« von Johann Wolfgang Goethe. Ganz vorne im Regal stehen Management-Novellen mit kleiner Seitenzahl, simpler Botschaft und einem Erkenntniswert, der nur knapp über einen Dieter-Bohlen-Spruch hinausreicht.
Von zehn Führungskräften, die zu mir in die Beratung kommen, haben neun niemals ein Buch von Peter F. Drucker gelesen, dem bedeutendsten Management-Autor aller Zeiten. Das ist so, als wollte jemand ein großer Komponist werden, ohne je von Mozart gehört zu haben. »Minuten-Bücher« wie »Die Mäusestrategie« oder »Fish« (eine höchst beliebte Motivationsnovelle) können eine solche Grundlage ergänzen, aber nie ersetzen.
Doch die Bildungslücke klafft noch breiter. Während in den USA und in Frankreich die Mehrheit der Manager immerhin Bücher liest, greifen in Deutschland zwei von drei Managern niemals ins Regal (nicht einmal zu Management-Novellen!), wie eine internationale Umfrage 2007 ergab. »Sind unsere Entscheider Fachidioten?«, fragte das manager-magazin besorgt. 49
Diese Naivität der Führenden, diese von Wissen unbefleckte Empfängnis der Managerposition, bleibt nicht ohne Spuren. Wenn Manager ihre Mitarbeiter nur noch als überflüssigen Ballast sehen, den es abzuwerfen gilt, wenn sie sich mehr mit dem Abbauen von Kosten als mit dem Aufbauen von Umsatz befassen, wenn sie den Kunden nur noch als »Account« (also Konto) betrachten, statt ihn wertzuschätzen – dann lässt diese Kurzsichtigkeit auf Management-Legastheniker schließen.
»Legastheniker« – ist das nicht übertrieben? Nein, in den USA fanden Wissenschaftler heraus: 35 Prozent der dortigen Firmeninhaber leiden unter Lese- und Rechtschreibschwäche, ein Anteil, der 350 Prozent über dem Durchschnitt der Bevölkerung liegt. 50 Nach allem, was ich von den hiesigen Managern gehört und vor allem gelesen haben, befürchte ich in Deutschland Ähnliches – nicht nur bei der Rechtschreibung, sondern vor allem auch beim Wissen über Führung.
Viele Irrenhaus-Direktoren sitzen vor ihrem Führungsklavier ohne jede Notenkenntnis. Sie sind in ihre Positionen gekommen wie die Jungfrau zum Kind: durch ihr Fachwissen. Der beste Ingenieur leitet eines Tages die Konstruktionsabteilung, nur dass er es dann nicht mehr mit Zahlen, Programmen und Materialien zu tun hat, mit denen er umzugehen weiß, sondern mit Mitarbeitern, auf die ihn niemand vorbereitet hat.
Es ist ein merkwürdiges Ding in Deutschland: Jeder Bäcker braucht einen Qualifikationsnachweis, eine dreijährige Ausbildung, ehe man ihn Brötchen backen lässt. Aber was braucht eine Führungskraft? Nur Macht! Auf ihrem Karriereweg lernen Chefs alles Mögliche, nur nicht das Führen von Mitarbeitern. Dieses Thema wird bestenfalls im Schnellverfahren, in Tages- oder Wochenseminaren, abgehakt.
Und so hauen sie mit beiden Händen auf die Tastatur ein, die ungelernten Führungskräfte – und die Mitarbeiter sind den Missklängen, den Fehlentscheidungen, den im wahrsten Sinn unqualifizierten Angriffen auf ihre Motivation ausgesetzt.
Muss dieser Irrsinn sein? Nein, denn die Lektüre »echter« Managementbücher könnte den Irrenhaus-Direktoren die Augen öffnen. Peter Drucker hat als Erster erkannt, dass eine Firma nur so gut wie ihre Mitarbeiter sein kann. Immer wieder forderte er, Mitarbeiter sollten nicht als Kostenfaktor, sondern als »Aktiva« in der Bilanz auftauchen. Aber er hat keine Business-Novelle geschrieben, sondern komplexe Sachbücher. So erklärt er in »Umbruch im Management«:
»In den meisten Organisationen wird (…) immer noch geglaubt, was Arbeitgeber im 19. Jahrhundert angenommen haben: Die Mitarbeiter sind viel mehr auf uns angewiesen als wir auf sie. Tatsächlich aber müssen die Organisationen die Mitgliedschaft in ihren eigenen Reihen ebenso schmackhaft machen, wie es bei der Vermarktung ihrer Produkte und Dienstleistungen der Fall ist – wenn nicht sogar darüber hinaus. Sie müssen Menschen anziehen, halten, sie anerkennen und belohnen, Menschen motivieren, sie bedienen und zufriedenstellen.« 51
Dieses Buch wäre das bessere Weihnachtsgeschenk gewesen. Vor allem für den Geschäftsführer. Vielleicht hätte er erstmals bei der Weihnachtsfeier den Mund gehalten – und stattdessen lieber seine Mitarbeiter gefragt, wie sie das letzte Jahr in seiner Firma erlebt haben.
Betr.: Als ich meinen Chef bei einer
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