Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
Vom Netzwerk:
neuer Chef zerstört, was sein Vorgänger aufgebaut hat, und baut auf, was sein Nachfolger zerstören wird.
    Ein Bett im Lazarett
    Offenbar hatte sich der Geschäftsführer des kleinen Sportartikel-Vertreibers bei einem Blick in die Statistik geärgert: Sechs Tage, also rund 48 Arbeitsstunden, war sein durchschnittlicher Mitarbeiter im Vorjahr krank gewesen. Krank gewesen ? Oder hatten die Leute nur krank gefeiert ? Diese Frage diskutierte er mit seinem Personalchef, einem Klienten von mir. Doch dessen Hinweis, dass die Zahl der Krankheitstage 15 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt lag, konnte den Irrenhaus-Direktor nicht besänftigen. Der Chef wollte die Krankentage wie eine Ungezieferplage ausmerzen, mit allen Mitteln.
    Im Januar erreichte die 150 Mitarbeiter der Firma eine Rundmail ihres Chefs: Fürs Jahresende wurde eine »Sonderprämie« in Höhe von 500 Euro in Aussicht gestellt – und zwar allen, die bis zum 31. Dezember keinen Fehltag hätten. Es sei »an der Zeit, diese Leistungsträger, die oft für andere mitarbeiten, angemessen zu belohnen«.
    Natürlich lasen die Mitarbeiter auch den Text zwischen den Zeilen: »Viele von euch sind faule Hunde! Ihr macht krank, ohne krank zu sein. Gegen diese Leistungsverweigerung ist nur ein Kraut gewachsen: der Prämienscheck. Wollen wir wetten, dass eure Gesundheit auf einmal zum Höhenflug ansetzt?!«
    Ein Teil der Mitarbeiter war empört. Sah der Chef denn nicht, wie zuverlässig die Arbeit erledigt wurde – auch dann, wenn mal jemand krank war? Wie kam er darauf, sie für eine Bande von Simulanten zu halten? Ein anderer Teil der Mitarbeiter hielt sich beim Schimpfen zurück und rechnete im Kopf schon mal aus, was von den 500 Euro netto übrigblieb. Und wofür sich das Geld verwenden ließe.
    Im Juli ließ sich der Geschäftsführer von seinem Personalchef eine Zwischenbilanz ausdrucken. Zufrieden studierte er die Tabelle: Die Zahl der Krankheitstage war um 20 Prozent gesunken. Triumphierend sage er: »Sehen Sie, es gibt keine bessere Medizin als eine Prämie!«
    Doch dann kam der Herbst. Und mit ihm eine Grippewelle. Die Mitarbeiter wichen keinen Schritt zurück: Sie husteten, röchelten, hielten sich an Taschentüchern fest – aber schleppten sich tapfer in die Firma. Keiner wollte den 500-Euro-Scheck durch einen Krankheitstag in den letzten Monaten des Jahres verlieren.
    Wer als Besucher über den Firmenflur ging, kam sich vor wie in einem Menschenzoo: Da trompeteten Elefanten (Ausschnupfen ins Taschentuch), da bellten wilde Hunde (Hustenanfälle) und da sausten Ren(n)tiere über den Flur (durchfallerkrankte Mitarbeiter auf dem schnellsten Weg zur Toilette).
    Bei Sitzungen, in der Kantine und in der Kaffeeküche vermischten sich die kranken mit den noch gesunden Mitarbeitern. Man tauschte nicht nur Tratsch aus, sondern reichte beim Sprechen, Lachen und Händeschütteln auch die Influenza-Viren weiter. Nach einigen Tagen glich die Firma einem Lazarett: Immer mehr Mitarbeiter machten schlapp. Mit Frösteln und Schweißausbrüchen ging es los. Mit Husten ging es weiter. Dann kamen Kopf- und Gelenkschmerzen hinzu. Der Bedarf an Feldbetten stieg.
    Von Tag zu Tag wurden die Büros leerer: Die Mitarbeiter meldeten sich mit hohem Fieber krank. Die Temperaturen, die im Angebot waren, begannen bei 38 Grad und reichten bis 40. Schließlich lag sogar der Geschäftsführer mit Fieber und Schüttelfrost im Bett.
    Von 150 Mitarbeitern waren am Ende 38 zur gleichen Zeit krank – das hatte es in der Geschichte der Firma nie zuvor gegeben. Bei etlichen dauerte es über eine Woche, ehe sie wieder arbeitsfähig waren.
    Mein Klient, der als Personaler besonders viele Hände schüttelte, hatte zu den ersten Opfern der Grippewelle gehört. Als er am Ende des Jahres eine Bestandsaufnahme machte, war das Ergebnis erschütternd: Die Zahl der durchschnittlichen Krankheitstage war von sechs auf acht gestiegen. Die Maßnahme des Geschäftsführers, die Fehltage reduzieren sollte, hatte sich als Krankheitsbeschleuniger erwiesen.
    Die beiden Lazarett-Wochen haben den Zulieferer viel Geld gekostet – nicht in erster Linie durch Lohnfortzahlung, denn die meisten Mitarbeiter waren loyal genug, die Rückstände nach ihrer Genesung selbst wieder aufzuholen. Vielmehr konnte ein vertraglich zugesagter Liefertermin nicht gehalten werden. Das zog eine saftige Konventionalstrafe nach sich.
    Der Gesundheit ihrer Mitarbeiter auf die Sprünge helfen, das wollen die Direktoren in etlichen

Weitere Kostenlose Bücher