Ich arbeite in einem Irrenhaus
utopische Termine zu. Und wir reißen uns – pardon – den Hintern auf, um diese Zusagen zu halten. Die Terminplanung ist eine Katastrophe. Ich fahr immer Vollgas, immer Überholspur – dabei ist mein Tank längst leer!«
Sein Beratungsziel: Er will raus aus diesem Irrenhaus. Egal wohin.
Ein paar Monate später. Nun sitzt eine andere Mitarbeiterin derselben Abteilung bei mir in der Beratung. In Gedanken mache ich mich auf den zweiten Akt eines Irrenhaus-Theaters gefasst. Umso verblüffter bin ich, als die Ingenieurin zu plaudern beginnt:
»Wissen Sie, was mir an unserer Firma so gefällt? Wir sind kein Schlafwagen, keine Wiederholungstäter. Jeder Tag ist spannend, bringt neue Herausforderungen. Ich darf improvisieren, Dinge selbst entscheiden. Die engen Termine liebe ich – das weckt meinen sportlichen Ehrgeiz. Dann laufe ich zur Hochform auf, wie eine Sprinterin im Finale.«
Ihr Beratungsziel: Sie will in dieser Firma aufsteigen. Genau hier.
Was ich Ihnen mit dieser Geschichte sagen will? Dass die Frage, ob Ihre Firma ein Irrenhaus ist, von zwei Faktoren abhängt: nicht nur von Ihrer Firma – sondern auch von Ihnen. Zwar werden Sie am Ende dieses Kapitels einen »Großen Irrenhaus-Test« finden, mit dem Sie die Macken Ihrer Firma im Detail untersuchen können. Und Sie werden gleich erfahren, dass einige Firmen von Wissenschaftlern mit lupenreinen Psychopathen verglichen werden.
Aber das absolute Irrenhaus, dessen Wahnsinn sich wie Fieber nachweisen lässt, ist die Ausnahme. Häufiger werden Ihnen Firmen am Rande des Irrsinns begegnen, relative Irrenhäuser . Dann hängt es nicht zuletzt von Ihrer Wahrnehmung ab, ob Sie diese Firma als »schnelle Truppe« sehen (wie die Ingenieurin oben) oder als »irrsinnig hektisch« (wie der Ingenieur), als »enorm geschäftstüchtig« oder »von krankhafter Profitgier getrieben«, als »ausgeschlafen in Steuerdingen« oder als »waschechte Betrügerbande«.
Was zwischen Ihnen und der Firma passiert, nenne ich als Coach eine »systemische Wechselwirkung«. Das ist wie mit zwei Chemikalien. Wenn Sie beide zusammenkippen, kommt es zu einer Reaktion. Wie diese ausfällt, ob es duftet oder stinkt, hängt immer von den Eigenschaften beider Chemikalien ab.
Eine Firma, auf die Sie allergisch reagieren, die Ihnen Pickel auf die Stirn treibt, die Sie als »das letzte Irrenhaus« erleben – diese Firma kann von einem Kollegen vollkommen anders erlebt werden. Für den Apfel-Allergiker ist jeder Apfel eine Bombe – für den Apfelfreund hingegen eine Delikatesse. Beides ist (subjektiv) wahr.
Eine Firma, die 6000 Mitarbeiter hat, existiert 6000 Mal. Jeder Mitarbeiter nimmt seine eigene Firma wahr. Die Brille, durch die Sie schauen, ist Ihre »Wahr-Nehmung«. Und der Maßstab, mit dem Sie messen, sind Ihre Werte. Die konstruktivistische Psychologie geht davon aus: Wahr ist, was ein Mensch (für) wahr nimmt. 58
Um eine Substanz zu meiden, die für ihn schädlich ist, muss der Allergiker zunächst wissen: »Was ist mit mir los, worauf genau reagiere ich allergisch?« Dasselbe gilt im Umgang mit Irrenhäusern. Je besser Sie sich kennen, Ihre Werte und Maßstäbe, desto klarer werden Sie erkennen: Welche Eigenarten Ihrer Firma stören Sie? Welche Situationen verursachen Leidensdruck? Und warum genau erleben Sie gewisse Verhaltensweisen, gewisse Strukturen, gewisse Menschen als irrenhausreif?
Diese Selbsterkenntnis nützt Ihnen dreifach: Erstens können Sie die Dosis des täglichen Irrsinns senken, die Sie bislang schlucken. Zweitens können Sie das Ausmaß Ihrer allergischen Reaktion einschätzen und daraus Konsequenzen ableiten – zum Beispiel einen Ausbruch aus dem Irrenhaus. Und drittens können Sie bei einem Wechsel gezielt nach einer Firma suchen, die bei Ihnen (höchstwahrscheinlich) nur freudige Reaktionen hervorruft, aber keine allergischen.
Nun könnten Sie fragen: »Aber was ist, wenn viele Menschen vom selben Apfel essen, und etliche verderben sich den Magen, etliche übergeben sich, etliche leiden?« Dann ist es unwahrscheinlich, dass sie alle Allergiker sind – aber wahrscheinlich, dass der Apfel vergiftet ist.
Leider stimmt es: Einige Firmen sind so durchgeknallt, dass sie objektiv als Irrenhäuser gelten müssen. Diese absoluten Irrenhäuser – die gefährlichste Kategorie – erkennen Sie daran, dass die Mehrzahl Ihrer Kollegen leidet. Wo das Mobbing sich wie eine Seuche ausbreitet, wo immer mehr Beschäftigte in psychische Krankheiten stürzen,
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