Ich bin dann mal offline
Konzept der »praktischen Klugheit« (Phronesis) mit auf den Weg, den der Hirnforscher auf unsere heutige OnIine-Welt umgemünzt hat: »Jedet kann sich heute dafür begeistern, das Internet zu durchkreuzen, das ist einfach; aber es nach Dingen der Weisheit, ohne Zwang zu durchkreuzen -zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art -das ist nicht einfach.« Dann fügt er in seinen eigenen Worten hinzu:
»Vermeiden Sie es, süchtig nach Dingen zu sein, die keinen eigenen Wert haben. Wählen Sie Ihre Süchte sorgfältig aus und beherrschen Sie sie, statt sich von ihnen beherrschen zu lassen.«
Mittlerweile ist mir auch klar, warum ich in der ersten Phase meines Selbstversuchs so freudlos, schlapp und niedergeschlagen war: Mir fehlte einfach das Dopaminfeuerwerk, das mein Gehirn jedes Mal abgebrannt hatte, wenn ich mich morgens an den Computer gesetzt und nach einer halben Stunde zwischen Lust und Stress bereits über ein Dutzend Browserfenster gleichzeitig geöffnet hatte. Damit meine Synapsen vernünftig funktionieren können, brauchen sie, so die Neurobiologin Amy Arnsten von der Universität Yale, genau die richtige Menge sowohl an Dopamin als auch an Noradrenalin. Noradrenalin ist ebenso wie sein bekannterer Bruder Adrenalin eine Art Folgeprodukt von Dopamin. Nur wenn man sich in dem optimalen Punkt zwischen zu viel und zu wenig nervlicher Anspannung befindet, hat man die Chance, den sogenannten Flow zu erleben. Also jenen Zustand, in dem uns die Arbeit leicht von der Hand geht, eines das andere ergibt, alles zueinander passt, wir gute Lösungen auch für komplizierte Probleme finden -oder beispielsweise beim Tennis einen Tick besser spielen, als wir es eigentlich können.
Zu wenig Dopamin -und man kommt, so wie ich vor zwei Wochen, morgens nicht in die Gänge, kann sich nicht aufraffen. Befindet man sich jedoch zu lange in einem Stadium übermäßiger nervlicher Anspannung, also dem, was man gemeinhin als »negativen Stress« bezeichnet, steigen der Cortisolund Adrenalinspiegel in unserem Körper nicht nur momentan, sondern chronisch an. Was nicht bloß
ungesund ist, sondern auch Neuronen in unserem Hippocampus, einem Teil unseres Gehirns, schädigen und somit unsere Fähigkeit beeinträchtigen kann, Erinnerungen zu speichern und neue Dinge zu lernen.
Als ich Jessica um Mitternacht ihren Schlitten überreiche, weiß sie natürlich sofort, was sich hinter den diversen Packpapierschichten befindet. Die Freude ist trotzdem groß, und ich verzichte auf einen langen Vortrag über Dopamin und das Belohnungszentrum und unsere rätselhafte Leidenschaft für das Suchen. Wir holen uns stattdessen eine Extraportion Dopamin und Adrenalin und eine Menge blauer Flecken, als wir im nächtlichen Schneetreiben zu einem kleinen, aber steilen Hügel in der Nähe stapfen. Mitternachtsrodeln erscheint uns ausgefallen, verrückt und einzigartig -aber als wir den Miniberg erreichen, müssen wir feststellen, dass wir weniger originell sind, als wir denken: Rund ein Dutzend Menschen sausen bereits auf Plastiktüten jauchzend den Hang hinunter, zwei haben sogar Ski unter den Füßen, einer ein flaches Minisurfbrett. »Aber niemand hat einen Holzschlitten aus dem Erzgebirge«, preise ich mein Geschenk noch einmal an. »Halt dich lieber fest«, antwortet Jessica und schiebt uns und den Schlitten mit einem beherzten Ruck über die Kante.
Dreizehn Dinge, die das Internet auf dem Gewissen hat
• Den Teletext/BTX
• Unangenehme Überraschungen auf Klassentreffen
• Angenehme Überraschungen auf Klassentreffen
• Den Quelle-Katalog
• Höflichkeit unter Fremden
• Privatjets und Kokainorgien in der Musikindustrie
• Angenehme und tagelange Unwissenheit vom Tod Prominenter
• Telefonbücher
• Den guten Ruf nigerianischer Geschäftsleute
• Die fabelhaften Geschäftsaussichten von Lexikonverlagen
• In Plattenläden verbrachte Teenagerjahre
• Rechthaber-Wetten auf Partys, die nie aufgelöst werden
• Die romantische und unerreichbar verschollene Ferienliebe
kapitel 5
In dem ich erfahre, wie viele Freunde ein Mensch wirklich braucht, einen fast fatalen Ratschlag eines Reisebüros befolge -und lerne, dass es keine Form von Internetsucht gibt, die es nicht gibt.
Tag 29 Bei 150 hört die Freundschaft auf
In einem Zeitungsartikel lese ich, dass der durchschnittliche Facebook-Benutzer rund 110 Freunde hat. Ich kann zwar im Moment nicht nachsehen, erinnere mich aber, ziemlich genau doppelt so viele zu
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