Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
nervös, denn es klang nach Maharaj. Maharaj ist ein echter Brocken von einem Kater. Er ist fast dreimal so schwer wie ich und macht eine Menge Lärm, wenn er sich bewegt. Er musste Saskias Knurren gehört haben und kam, um zu sehen, was los war.
Maharaj ließ sich Zeit, schleppte seinen massigen Körper langsam durch das Gestrüpp, und jetzt roch ich ihn – es war eindeutig Maharaj, und in mir bauten sich Angst und Druck auf. Ich überlegte: Sollte ich versuchen, mich aus dem Staub zu machen, und dabei riskieren, seine Aufmerksamkeit zu erregen, oder sollte ich lieber so ruhig wie möglich liegen bleiben und hoffen, dass er mich ignorierte?
Ich beschloss zu gehen, aber das war die falsche Entscheidung. Kaum war ich aufgestanden, hörte ich, wie Maharaj zum Sprint ansetzte, und drei schnelle Sprünge später – bamm, bamm, bamm – war sein schwerer Körper über mir, seine Krallen steckten in meinem Rücken, und er hatte seine Zähne tief in meinen Hintern geschlagen.
Ich jaulte auf und wand mich, aber er hielt mich dreißig Sekunden oder eine Minute lang am Boden, und währenddessen hörte ich ihn furzen, fast beiläufig, laut und stinkend, als wollte er zeigen, wie entspannt er war, wie locker er mich zu Boden drücken und mir wehtun konnte. Endlich ließ er von mir ab. Er stand einfach auf und ging seelenruhig davon. (Er sah mich nicht einmal an – genau wie Saskia.) Vor dem Stahltor in dem Glasfaserfelsen, wo ich normalerweise mein Futter bekam, blieb er stehen. Er hockte sich hin und pinkelte einen dicken Strahl. Der Gestank würde tagelang an dem Felsen haften, das wusste er genau.
Ich hatte mittlerweile nur noch einen Gedanken: Kitch. Ich will Kitch. Er soll einfach nur kommen und diesen Tag retten, ihn so schön machen, wie er zu werden versprochen hatte. Kitch soll mir mein Futter bringen und meinen Felsen abwaschen. Er soll ein paar Minuten bleiben und mir Maharaj vom Leib halten. Ich will Kitchs Stimme hören, die mich lobt und mir sagt, was für ein guter Tiger ich bin, und die mir sagt, was ich tun soll. Und selbst wenn Kitch nichts von all dem getan hätte. Meinetwegen hätte er mein Futter vergessen und kein Wort zu mir sagen können. Er sollte einfach nur kommen. Ich wollte für ein paar Sekunden sein Gesicht sehen, ihn einfach nur anschauen. Schon allein der Gedanke an Kitchs rosa Gesicht beruhigte mich ein wenig, er gab mir Hoffnung und linderte den pochenden Schmerz in meinem Hinterteil und meinem Kopf etwas. Er würde bald kommen, ich wusste es.
Ich legte mich wieder hin und schloss die Augen. Auch der Besucherlärm verebbte endlich zum gewohnten fernen Summen und Schnattern, wie eine akustische Decke über der Welt, und nach kurzer Zeit schlief ich ein.
Als ich aufwachte, hatte sich eine Wolkenbank vor die Sonne geschoben, und es war grau und kalt. Meine Kopfschmerzen hatten nachgelassen, aber jetzt zog sich mein ganzer Körper vor Hunger zusammen. Ich schnüffelte an dem Stahltor, aber dort gab es weiterhin nichts als Maharajs Pisse zu riechen.
Von Kitch immer noch keine Spur. Ich konnte es nicht glauben.
In dem Moment hallte eine vertraute Melodie über den Graben, der mich von den Besuchern trennte:
The river is chilly and the river is cold, Hallelujah
Michael, row the boat ashore, Hallelujah.
Oh Gott, schoss es mir durch den Kopf. Nicht die »Row-your-boat«-Frau, heute bitte nicht. Da stand sie, in dicken Pullovern, stinkend und mit zerzaustem Haar, und grinste mit ihren kaputten Zähnen. Ich roch sie selbst da, wo ich saß!
Instinktiv brüllte ich sie an, aber sie hörte nicht auf zu singen. Im Gegenteil, sie jauchzte auf und grölte nur noch lauter.
The river is deep and the river is wide, Hallelujah
Milk and honey on the other side, Halleluhjah.
Ich erhob mich, ging auf und ab, blieb hin und wieder stehen, um sie wütend anzufunkeln, aber sie ließ sich kein bisschen einschüchtern. Sie sang und sang und sang. Nach etwa einer halben Stunde ging das Singen in leises, wirres Gefasel über, bis sie schließlich auf einer Bank zusammensackte und zu schnarchen begann.
Der Tag schleppte sich weiter dahin, dabei hatte die Sonne noch nicht einmal ihren höchsten Stand erreicht. In meinem Kopf dröhnte ein schmerzhaftes Tock! Tock! Tock!, und als ich aufsah, stand da der junge Zoowärter und schlug mit seinem Müllsammelstab gegen die Bank, um die Row-your-boat-Frau zu wecken. Als sie schließlich aufwachte, ging sie still davon.
Kitch, dachte ich ununterbrochen. Kitch Kitch
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