Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
helfen? Egal, wo ich hinsah, alle rannten weg, als hätten sie schreckliche Angst vor irgendetwas. Was für eine mysteriöse Furcht konnte die gesamte Menschenpopulation im Zoo ergriffen haben, ausgerechnet heute? Was konnte so schrecklich sein, dass es sie davon abhielt, Kitch zu helfen? War vielleicht ein Elefant ausgebrochen?
Schließlich durchschaute ich die Lage: Ich war Kitchs einzige Hoffnung. Ich rannte zurück zur Tür meines Geheges, aber kaum war ich dort, zuckte ein Blitz und es knallte. Als sich der Rauch verzogen hatte und das Klingeln in meinen Ohren nachließ, sah ich einen großen, hageren Mann, der sich unbemerkt hinter dem Popcornstand gegenüber von meinem Gehege hingekniet hatte, in den Händen ein langes Gewehr. Er hatte offensichtlich auf mich gewartet, und jetzt schoss er noch einmal.
Ich duckte mich und hielt ganz still. Er schoss ein drittes Mal, und hinter mir krachte es laut. Ich wollte auf ihn zuspringen, aber er feuerte noch einmal ab, und diesmal verfehlte mich der Schuss so knapp, dass mir seine Hitze im Gesicht brannte, und ich hatte keine andere Wahl, als mich umzudrehen und wegzurennen.
Ich rannte und rannte, und die Leute um mich herum schrien und rannten ebenfalls, und ich rannte hinter ihnen und neben ihnen her, weil ich ja nicht wusste, wohin sonst, und schließlich rannte ich von ihnen fort. Ich lief so lange, bis ich nicht mehr wusste, wo ich war. Es waren weder Tiere noch Menschen dort, nur ein langes schwarzes Band, auf dem etwas vorbeisauste, ächzende, kreischende und brummende Dinger auf Rädern. Alle paar Minuten hörte ich das Gewehr des großen Mannes, das mich kurz zuvor fast verbrannt hätte – oder glaubte es zu hören –, und dann rannte ich noch schneller. Ich rannte neben diesen schnellen Dingern her, und sie schleuderten herum, krachten und quietschten und machten wieder und wieder dieses alarmierende Geräusch. Ich rannte und rannte, ohne zu wissen, wohin, wollte einfach nur weg von dem Wahnsinn im Zoo, dem Wahnsinn meines Lebens, und außerdem hoffte ich immer noch, irgendwie Hilfe für Kitch zu finden.
Ich rannte, bis ich kaum noch die Beine heben konnte und mir jeder Atemzug mit scharfen Krallen durch die Lunge fuhr. Dann wurde ich langsamer und drehte mich um, und die rollenden Dinger waren endlich nur noch vereinzelt und in der Ferne zu sehen. Vor mir lagen weite Grasflächen, und auf diesem gepflegten Gras standen, etwas weiter hinten, kleine Häuser. Wo ich auch hinsah: Häuser und Gras, hübsch angeordnet, so weit das Auge reichte. Und dieser Blick – der weiteste Blick, den ich je im Leben hatte! Ein kribbelndes Glücksgefühl überkam mich. Ich konnte rennen, so lange ich wollte, und keine Mauer würde mich aufhalten. Und ich rannte. So müde ich auch war, irgendetwas in mir trieb mich immer weiter, in großen Schritten, fast Sprüngen. Es war ein eigenartiges Gefühl – ich war auf der Flucht, ich war besorgt um Kitch, den ich verletzt hatte, und ich war fernab von dem einzigen Zuhause, das ich je gehabt hatte, aber trotzdem verspürte ich diese eigenartige und beinahe beängstigende Euphorie. Auf einer dieser großen Grasflächen, hinter einem kleinen Haus, entdeckte ich erfreut ein riesiges, eisblaues Becken voll Wasser. Dort blieb ich stehen und trank, so viel ich konnte. Dann tauchte ich den ganzen Kopf in das Becken und hob ihn triefend und kühl wieder heraus. Der Wunsch nach Schlaf war jetzt so überwältigend, dass ich mich auf der Stelle hinlegte und die Augen schloss.
Aber ich schlief nur kurz und unruhig. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder Kitch, der sich blutend am Boden wand; ich sah den Mann mit der dicken Brille und den Gummihandschuhen, mit denen er nach mir greifen wollte. Ich sah Maharaj und Saskia, die all das voller Schadenfreude beobachteten. Schließlich hörte ich die weichen Schritte des Mannes mit dem Gewehr und den scharfen Knall seiner Waffe und schreckte aus dem Schlaf hoch.
War er wirklich in der Nähe, oder hatte ich auch das geträumt? Der weite, offene Ausblick, der mich vorhin noch in freudige Erregung versetzt hatte, schien jetzt zahllose Gefahren zu bergen. Hier war ich völlig ungeschützt. Wahrscheinlich nahm mich der stille Mann mit seinem langen Gewehr genau in diesem Moment ins Visier.
Das Becken, aus dem ich getrunken hatte, lag direkt hinter einem kleinen Haus oder Gebäude. Ich schlich mich näher heran und schnupperte nach Gefahren. Es war nicht leicht, an diesem Ort irgendetwas zu riechen,
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