Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
ins Waschbecken; er würde sie dann später in der Toilette hinunterspülen, überlegte er sich. Dann hievte er den armen Vicente so gut er konnte vom Stuhl hoch und schob ihn auf den Untersuchungstisch, der maximal für einen großen Hund gedacht war. Vicentes Beine knickten an den Knien ab und schlenkerten seltsam herab.
»Schwester, Nadel und Faden bitte«, sagte Gopi kichernd zu sich selbst, dann nahm er die chirurgische Nadel zur Hand, die er zuvor mit medizinischem Nahtmaterial versehen und auf einem Tablett bereitgelegt hatte.
Mitten im Nähen kam Vicente wieder zu sich, und Gopi redete beruhigend auf ihn ein. »Geht’s wieder besser?«, fragte er. »Nicht hinschauen. Wir haben das gleich.« Gopi machte einen kleinen Knoten und bewunderte sein Werk. Die Naht war zackig und zerklüftet, aber Gopi staunte, dass ein Mann, den seine Mutter und seine Frau nicht einmal einen Hemdknopf hatten annähen lassen, eine vergleichsweise saubere Arbeit zustande bekommen hatte. Gopi verband die Wunde. Er wusch sich die Hände, nahm Vicentes Bargeld entgegen und riet ihm, nach Hause zu fahren und reichlich Paracetamol zu nehmen. Dann schüttelte er ihm kräftig die Hand, und der arme Mann zuckte zusammen.
»Wir sehen uns in einem Monat?«, fragte Gopi.
Als die beiden Männer in den Vorraum traten, stand Sandra auf. Sie war kreidebleich.
» Qué pasó ?«, fragte sie.
Sie und Vicente wechselten ein paar schnelle und sich überlagernde Sätze, und Gopi unterbrach sie. »Warum ist sie denn so aufgeregt? Was ist los?«
Vicente sah Gopi an. »Sie hat die Geräusche da drin gehört«, sagte er. »Sie dachte, es wäre irgendwas Schlimmes passiert. Das ist alles.«
»Alles in Ordnung«, erwiderte Gopi. Er nahm Sandras Hand. »Er ist ein guter Junge. Passen Sie auf ihn auf.«
Sandra zog die Stirn in Falten. Als die beiden sich zum Gehen wandten, stieß sie noch einmal einen Schrei aus: Vicentes Hemd war am Rücken voller blutiger Fingerabdrücke.
Nachdem sie gegangen waren, setzte sich Gopi. Wir sehen ihn förmlich vor uns – das Adrenalin ebbte langsam ab, und allmählich wurde ihm klar, was er getan hatte. Er hatte einem anderen Menschen mit einem Messer in den Leib geschnitten, und es war eine Hilfe gewesen, keine Bedrohung. Er hatte eine Operation durchgeführt, und vor allem hatte er währenddessen kein einziges Mal darüber nachgedacht. Er war Arzt geworden, einfach so, und als ihm das klar wurde, war Gopi so beschwingt, dass er zu schweben schien. Er schwebte über sich selbst und begriff, dass er gerade einen köstlichen und leicht beängstigenden Traum leben durfte. In diesem Zustand flauer Heiterkeit trat Gopi hinaus; er brauchte jetzt dringend die beruhigende Gesellschaft der Männer auf dem Parkplatz. Aber sie waren nicht mehr da, deshalb ging er zu der chemischen Reinigung nebenan und hoffte, er könne sich mit dem jungen Mädchen unterhalten, das dort arbeitete (»Wo kriegen Sie denn so viele Kleiderbügel her?«). Aber sie machte gerade Mittagspause, und so spazierte Gopi über den Kies am Straßenrand, bis er zu dem Feld mit den grasenden Kühen gelangte. Gopi redete laut auf die stummen, todgeweihten Tiere ein, und irgendwie beruhigte ihn das.
Als er an jenem Abend nach Hause kam, fragte er seine Frau, bevor er mit ihr schlief: »Wie kommt es eigentlich, dass wir ganz allein hier in diesem Land sind, du und ich? Ist das nicht seltsam? Dass wir bestimmte Gedanken hatten, die zu bestimmten Taten geführt haben, und dass eine Menge anderer Dinge einfach zufällig passiert sind, wodurch ich jetzt im Endeffekt hier auf dir liege?«
»Ja, das ist wirklich seltsam«, antwortete Manju, die, wie wir später erfahren würden, an jenem Tag eine Nachricht von ihrer Ärztin bekommen hatte und gerade ihr eigenes Wunder erlebte, ohne dass Gopi etwas davon ahnte.
Im Tempel, bei den Feierlichkeiten zu Krishnas Geburtstag, überraschte Dr. Dilip Shenoy Gopi damit, dass er ihn im Speisesaal zu sich an den Tisch einlud. »Setz dich zu mir, Gopi«, hörten wir Dilip ungewöhnlich freundlich zu ihm sagen, und Gopi fragte sich, ob das wohl ein Zeichen für den verblüffenden Erfolg seiner Täuschung war – der unwirsche Arzt erkannte in Gopi jetzt instinktiv einen der Seinen.
Dilip legte seine dünnen Finger an den Rand seines Styroportellers. »Wie geht es dir, Gopi?«, fragte Dilip. Er hatte ein langes, ernstes Gesicht, und sein graues Haar war leicht aufgebauscht. »Unterhalten wir uns doch einmal. Wie läuft es so bei
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