Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
eines Bahnhofs. Ein majestätischer weißer Turban krönt mein Haupt, und an dem strengen Ausdruck meines ebenmäßigen Gesichts und an meinen dünnen Lippen ohne jede Spur eines Lächelns erkennst du ein selbstherrliches Temperament und eine bemühte Würde, die dich an gewisse Männer aus deiner entfernten Verwandtschaft erinnert. Eine Rosenkette hängt schwer um meinen Hals, und die Zeichen auf meiner Stirn verraten dir, dass ich wie du ein Iyer bin. Überdies wirkt mein Name – P. Rajarajeshwaran Iyer –, der zu meinen Füßen in einer zierlichen Handschrift quer über eine Bildecke geschrieben steht, wie eine Variante deines eigenen. (Eine erhabenere allerdings.) Und noch ein weiterer Zufall: Auf dem Gebäude hinter mir, über krakeligen Kreidezeichen, steht in englischen Großbuchstaben Rombachinnapattinam geschrieben – der Name des Ortes, aus dem deine Vorfahren stammen.
Wer war ich, fragst du dich. Ein entfernter Verwandter, ein frühes Echo deiner Selbst? Wie sahen meine Tage aus? Um dir eine Antwort zu geben: Ich war Vorsteher des ersten Bahnhofs von Rombachinnapattinam, und trotz all der Ähnlichkeiten war mein Leben vollkommen anders als deins. Zuerst einmal lebte ich in Rombachinnapattinam, einem Dörfchen, das sich – vor der Einführung der Eisenbahn – in den vierhundert Jahren seines Bestehens kaum gewandelt hatte. Die Dinge, die dir wichtig sind, haben nichts und doch eine Menge mit mir zu tun. Wie ich das meine? Erlaube mir, dass ich dir zur Erklärung von einem einzigartigen und alles verändernden Vorfall in meinem Leben berichte, und zwar meinem Verhältnis zu einem jungen Schreiber in meinem Büro, den ich einfach nur R. nennen werde. ( Erlaube mir , dir zu erzählen? Als würdest du mir eine Wahl lassen, mein lieber Junge, der du meine Stimme in deinem Kopf überhaupt erst hast entstehen lassen!)
Ich war noch neu auf meinem Posten, als ich R. kennenlernte. Ich saß gerade an meinem Pult und schrieb, da sah ich ihn verlegen zu meiner Bürotür hereinspähen. Barfuß und ohne Hemd stand er da, nur im Vaishti und mit einem kleinen Haarknoten auf dem ansonsten kahlen Kopf, das Gesicht noch von Babyspeck gerundet. Eindeutig ein Brahmane, aber ein ärmerer als ich. Ich hielt ihn sofort für einen der zahllosen Wichtigtuer und Langweiler, die an langen Nachmittagen am Bahnhof herumlungerten, um zuzusehen, wie die Madras Mail einfuhr, kurz hielt und dann weiterfuhr, und ich war etwas verärgert darüber, dass mein Bediensteter und Faktotum, Dhananjayan Rajesupriyan, den Kerl nicht abgefangen und auf den Bahnsteig verwiesen hatte, den angemesseneren Warteplatz für seinesgleichen. Wie wenig ich ahnte, welchen Einfluss dieser bescheidene Besucher auf mein Leben haben würde! Damals jedoch dünkte ich mich zu beschäftigt, um mehr als einen erbosten Gedanken an ihn zu verschwenden. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, rief ich höflich.
Er antwortete nicht, sondern blieb zum meinem Ärger einfach stehen.
»Junger Mann, die Madras Mail kommt erst um drei Uhr achtunddreißig. Sie sind zu früh.«
Schüchtern schüttelte er den Kopf. An diesem Punkt, gänzlich aus meiner Arbeit herausgerissen – ich setzte gerade einen taktvollen, aber dezidierten Brief an meinen offiziellen Dienstvorgesetzten in Madras auf, den Leiter der Abteilung für Ausgehende Züge und das Landpersonal, der zugleich der Onkel meiner Verlobten war und an den ich die dringende Bitte richtete, in meinem Büro die Stelle eines Verwaltungssekretärs zu besetzen; eine Stelle, die schon viel zu lange vakant war, weshalb ich selbst so unschöne Aufgaben übernehmen musste wie Beschwerdebriefe von Hand zu schreiben, statt sie zu diktieren, wie es jemandem in meiner Position viel eher angestanden hätte –, also gänzlich herausgerissen aus meiner Arbeit, erhob ich mich und ging auf meinen Besucher zu. (Es gibt übrigens keine »Abteilung für Ausgehende Züge«. Seltsame Freiheiten nimmst du dir heraus. Egal, nur zu.)
Als ich näher trat, faltete R. in respektvollem Gruß die Hände. Ich sah, dass er kein Junge mehr war, wie ich zunächst vermutet hatte. Genau genommen trennten uns nur wenige Jahre.
»Namaskaram, mein Herr«, sagte er. »Mein Name ist Rombachinnapattinam R., Sohn von Rombachinnapattinam N. und Enkelsohn von Rombachinnapattinam V. Ich klopfe an die Türen brahmanischer Geschäftsleute, die mir freundlich empfohlen wurden, weil ich …«
»Ja, ja.«
»… weil ich dringend eine Anstellung brauche, um mich und
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