Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
meiner Verlobungsfeier sehen, und um ehrlich zu sein, bescherte mir diese Aussicht weitere Anspannung, die sich als unangenehmes, gärendes Gluckern in meinem Bauch und in meinen Eingeweiden äußerte. Was, wenn ich das Mädchen nicht mochte? Was, wenn es von mir erwartete, dass ich nach Madras fuhr und ihm Saris kaufte, wie ich es einige Ehemänner hatte tun sehen, jetzt, wo die Eisenbahn eine solche Reise möglich machte? Was, wenn meine Verlobte Gespräche und Aufmerksamkeit von mir erwartete? Ich hatte beschlossen, ihrem Verhalten strikte Grenzen zu setzen, hoffte aber eigentlich, dass ich insgesamt sehr wenig mit ihr zu tun haben würde, und dass sie, wie eine neue Haushaltshilfe, allein in den Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich meiner Mutter fiele.
Bei all dem Druck und den Sorgen, die in mir wuchsen und sich miteinander vermischten, kam mir der Gedanke, an meinen Vorgesetzten zu schreiben und ihn offiziell um ein paar Tage Urlaub zu bitten, damit ich Zeit hatte, mich um mich selbst zu kümmern, meine Gedanken zu ordnen und mich vor und nach meiner Verlobungsfeier richtig auszuruhen.
Ich rief R. zu mir, damit er meine Worte niederschriebe, und inzwischen war genügend Zeit vergangen, dass ich seinen vorherigen Lapsus schon fast vergessen hatte. Wie üblich bat ich ihn erst nach Beendigung des Diktats, mir das Blatt zu zeigen.
Er gab es mir in die Hand, und als ich den Blick darauf senkte, spürte ich in mir etwas zusammenbrechen, so als wäre aus einer Kammer meines Herzens ein schwerer Stein gefallen und mit einem dumpfen Schlag in meinem Magen gelandet. R. hatte kaum eine einzige saubere und elegante Zeile vollendet, als sich auf einmal wieder dieses … ungeheuerliche und rätselhafte … dieses unmenschliche Gekritzel über die ganze Seite zog. Wie ein unbeholfenes Kind am ersten Schultag starrte ich auf das Blatt und erkannte keinerlei Sinn in dem, was ich dort sah. Wie kann ich dir eine Vorstellung davon vermitteln? Dies waren nicht die zufälligen Spuren eines Tieres oder eines Irren, nein; es steckte etwas Planmäßiges hinter dem, was er zu Papier gebracht hatte. Das gab mir zu denken. Flüchtig fragte ich mich: Waren diese dichten Zeichen in irgendeiner Form eine akkurate Transkription von etwas, was ich unwillentlich geäußert hatte? Bildete das Durcheinander auf dem Blatt ein Durcheinander ab, das aus meinem Mund gekommen war? Natürlich nicht, folgerte ich schnell. Doch was, wenn die Worte in einem einwandfreien Englisch geschrieben waren und mir die Fähigkeit, sie zu lesen, abhandengekommen war? Ich studierte diesen schrecklichen Brief noch eine Weile und entschied dann, dass er weder auf Englisch noch in sonst irgendeiner Sprache geschrieben war. Er war absolut nicht menschlich, er war absurd und fremd, und wenn ich ihn ansah, zog sich alles in mir zusammen.
»R.!«, rief ich, brüllte ich. »R.!« Ich brachte kaum ein Wort heraus. Ich streckte ihm nur das Blatt entgegen in der Hoffnung, es spräche für sich selbst.
Demütig und ohne ein Wort betrachtete er den Brief.
»Was hat das … Was hat das zu bedeuten?«, musste ich schließlich fragen.
»Was hat was zu bedeuten, mein Herr?«
Jetzt spürte ich den ersten Stachel des Zorns. Dieser Bursche hielt mich zum Narren. Ich sah es jetzt ganz deutlich: Man spielte mir irgendeinen wohldurchdachten Streich. Aber wer und wozu, und was für ein Streich das überhaupt sein sollte, begriff ich nicht, und das brachte mich nur noch mehr auf. Doch wer auch immer dahintersteckte – ob R. selbst oder irgendein Feind, den ich mir hier bei der Eisenbahn unwissentlich gemacht hatte, der R. als seinen Mittler benutzte, als seinen geheimen Inspektor –, er hätte zur Ausführung niemanden mit unbewegterer Miene finden können, denn R. ließ sich durch meine Bestürzung nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen. Der freche Kerl sah mich spöttisch und vollkommen unschuldig an.
»Stell meine Geduld nicht auf die Probe, R.! Sag mir, was hat das zu bedeuten? Was führst du im Schilde? Was geht hier vor sich? Ich lasse mich in meinem eigenen Büro nicht zum Narren halten.« Jetzt nahm er das Blatt, das ich ihm hinhielt, und begann zu lesen, ruhig und aufmerksam. Nachdem ich einige Minuten schweigend gewartet hatte, fragte ich: »Weißt du immer noch nicht, wovon ich spreche?«
R. antwortete nicht – er schien ganz in sein Werk vertieft, als steckte in diesen sonderbaren Zeichen irgendeine tiefe, fesselnde Bedeutung, und obwohl er sie selbst
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