Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
Für einen Moment erfasste mich ein panischer Schrecken, und ich fürchtete, ich könnte plötzlich meine Sehkraft und meine Konzentration verloren haben; ich rieb mir die Augen, blinzelte und schaute angestrengt auf das Blatt, doch es blieb, wie es war, vollkommen unleserlich.
Ich hielt es R. vor die Nase. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich ihn.
Er blickte ein paar Sekunden ausdruckslos auf das Papier, so als sähe er nicht, was ich ihm zeigen wollte. Dann erfasste er ganz allmählich das entsetzliche Gekritzel, er nickte zustimmend und sagte ruhig: »Ja, stimmt. Ich muss mit den Gedanken abgeschweift sein.«
Seine Erklärung war so schlicht, so schnörkellos und ungeniert, dass ich an mir selbst zweifelte. War mein anfänglicher Schrecken unbegründet? Vielleicht lag ein simpler Fehler vor, ähnlich einem Tintenklecks. Schließlich war R. bis zu diesem Moment in allen Dingen äußerst akribisch gewesen, ein wenig so wie ich. Es war immerhin sein erster Tag, schuldete ich ihm nicht eine gewisse Eingewöhnungszeit? Ich beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er setzte sich wieder und ich diktierte den letzten Teil des Briefes noch einmal, und diesmal war seine Niederschrift tadellos.
Ich versuchte, nicht mehr an den seltsamen Zwischenfall zu denken, und in den Tagen darauf war R. auch wirklich ein vorbildlicher Angestellter, der früh kam, spät ging und jetzt ein perfekt sitzendes Hemd trug. Ich wies Dhananjayan auf R.s pedantische Genauigkeit, auf seine Energie und seine ruhige und bereitwillige Haltung angesichts aller Aufgaben und Herausforderungen hin. »Beobachte ihn genau«, sagte ich zu Dhanu, »und sieh zu, dass du dir eine Scheibe abschneidest.«
»Bin ich Ihnen denn nicht auch ein guter Gehilfe?«, fragte mich der junge Dhananjayan daraufhin traurig.
»Du, ein guter Gehilfe? Dass ich nicht lache!«, erwiderte ich mit unberechtigter Verärgerung und unwillig, wie ich es an manchen Tagen unerklärlicherweise war, ein Kompliment für diesen schmächtigen Jungen zu erübrigen. »Ein miserabler Gehilfe bist du mir, Dhananjayan Rajesupriyan. Du gehst, als hättest du Leim unter den Sohlen, und dauernd läuft dir die Nase. Wenn ich dich sehe, muss ich an einen Esel denken.« (Entschuldige mal, musst du mich wirklich so gemein darstellen? Ja, ich war streng zu diesem Jungen, den du dir ausgedacht hast, und das tut mir leid; aber er würde seine Rache bald bekommen.)
Erst im Nachhinein fällt mir auf, dass R. in jenen Tagen, die ohne Zwischenfälle verliefen, nur wenige oder gar keine Schreibarbeiten zu erledigen hatte, und kein einziges Diktat. Es ist auch denkbar, dass ich weitere Anzeichen von Überspanntheit nicht bemerkte, da in jener Zeit zu viele andere Dinge meine Aufmerksamkeit beanspruchten. Einige Monate zuvor war in Maniyachchi ein Zug entgleist und hatte drei Dutzend Menschen in den Tod gerissen, seither kursierten Gerüchte über unangekündigte, stichprobenartige Inspektionen in den Dorfbahnhöfen. An manchen Tagen bereitete es mir ein schier unerträgliches Unbehagen, der Verantwortliche für den Bahnhof und jenes dampfbetriebene Ungetüm zu sein, dem so viele ihr Leben anvertrauten. Ich war schließlich erst vierundzwanzig und neigte von Natur aus zu Gereiztheit und innerer Unruhe. An manchen Tagen forderte ich Dhananjayan vier- oder fünfmal in einer Stunde dazu auf, mir zu versichern, dass er die »Freigabeliste für die sichere Durchfahrt der Züge durch den Bahnhof« sorgfältig abgearbeitet hatte. Immerhin kamen jetzt wöchentlich Hunderte von Menschen durch Rombachinnapattinam. Fremde – einst ein seltener Anblick – stiegen Nachmittag für Nachmittag hier aus und bevölkerten unser Dorf. (Unsere Stadt , besser gesagt.) Fast über Nacht waren wir an ganz Indien angebunden. So sehr ich den Fortschritt begrüßte – die neuen Gegebenheiten hatten auch etwas Unnatürliches an sich. In einer Zeit der stets präsenten und wachsenden Furcht vor einer Katastrophe trug ich die Verantwortung. Und während ich in steter Sorge um meinen kleinen Zuständigkeitsbereich war, sprachen von morgens bis abends Leute bei mir vor und baten um Gefälligkeiten für sich und ihre Verwandten: vergünstigte Fahrkarten, verschobene Abfahrten und Sonderfahrten der Züge. Ja, ich war in unserer Stadt (besser!) ein bedeutender Mann, und ich gab mir alle Mühe, dieses Bild aufrechtzuerhalten. Ich wollte meine Gemeinde nicht enttäuschen.
Den Großteil davon würde ich schon in wenigen Wochen bei
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