Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
wallte in diesem Moment wieder auf, und ich ließ eine solche Tracht Prügel auf meine Frau niederprasseln, wie du es dir kaum vorstellen kannst. Dann ging ich still aus dem Haus und überließ sie der liebevollen Fürsorge meiner Mutter.
(Die Beziehung zu meiner Frau gehört, offen gestanden, nicht zu den Dingen, von denen ich mir gewünscht hätte, dass du sie erwähnst. Damit bist du nun wohl endgültig zu weit gegangen. Du glaubst, du hättest das Recht dazu, weil die entfernte Möglichkeit besteht, dass sie deine Ururgroßmutter oder jemand anderes war, dessen Leben Aufschluss über deines gibt. Aber du verstehst nicht das Geringste davon. Und ebenso wenig verstand sie etwas von mir. Wir lebten ein Leben in äußerster Vertrautheit, aber wie wenig wusste sie doch über die Tiefen meines Herzens und ich über die des ihren. Ich wurde in ihren Augen zu einem Scheusal, dessen bin ich mir sicher, und sie blieb mir immer ein Buch mit sieben Siegeln. Sie hatte viel zu erleiden. Ja, du bist zu weit gegangen, und das wäre wohl nur wiedergutzumachen, indem du noch einen Schritt weiter gingest; wenn du noch eine Geschichte schreibst, dann vielleicht eine über sie.)
Diese Auseinandersetzung an jenem Abend hatte mir die Laune verdorben, und ich machte mich sehr niedergeschlagen auf den Weg zu Rishikesh. Im Gehen spürte ich, dass mein äußerlich einfaches Leben in Wirklichkeit vollkommen unerträglich war. Als ich in den armen und unansehnlichen Teil unseres Dorfes kam, in dem Rishikesh wohnte, riefen die Leute etwas in die Dunkelheit, und ich argwöhnte, sie könnten mich verhöhnen. Ein Kieselstein prallte gegen mein Bein, und ich schrie den Schattengestalten zornige Worte entgegen. War denn nichts als eine Zielscheibe des Gelächters aus mir geworden; wurde ich nur noch zum Narren gehalten? Hatte sich alle Welt gegen mich verschworen?
Rishu versuchte vergeblich, mir den Grund meiner getrübten Stimmung zu entlocken, und in meinem Ärger bekam ich nicht übel Lust, auch ihm eine Tracht Prügel zu verpassen. Ich fragte mich laut, warum ich mir überhaupt die Mühe gemacht hatte zu kommen, denn auf einmal verspürte ich keinerlei Zuneigung mehr für den Jungen.
In einem ähnlichen Zustand verdrossener und zorniger Niedergeschlagenheit blätterte ich am folgenden Nachmittag am Bahnhof in einer der Zeitungen aus Bombay, als mir eine kurze Meldung ins Auge fiel:
Inder löst uraltes mathematisches Rätsel
Rogerson, Gelehrter indischer Abstammung an der University of Harvard in Boston, Amerika, veröffentlichte in der letzten Ausgabe des Journal of the American Society of Mathematicians einen Artikel, der das Leumens-Paradoxon auflösen soll, ein Rätsel, das schon den Gelehrten zur Zeit der alten Griechen Kopfzerbrechen bereitete. Der Leiter der mathematischen Fakultät in Harvard, Prof. Dr. William Oxswett, Bakkalaureus der Naturwissenschaften, Faculty of Applied Science and Mathematics, Fellow der Royal Society of Medicine, äußerte sich dazu folgendermaßen: »Dieser Aufsatz wird als eine der drei oder vier wichtigsten Schriften in die Geschichte der Mathematik eingehen. Rogerson ist ein Genie, das seinesgleichen sucht.«
Ich verstehe nichts von Mathematik. Sie war mein schlechtestes Schulfach, und vom »Leumens-Paradoxon« oder von diesem »Rogerson« hatte ich natürlich noch nie gehört. Sein Name klang noch nicht einmal indisch. Aber die Geschichte hatte meine Neugier geweckt, und ich sah mir das dazugehörige Bild genauer an: ein schmaler Jüngling in einem dunklen amerikanischen Anzug; breite Nase, gepunktete Krawatte und dichtes Haar, das wie ein Klecks schwarzer Sahne auf seinem Kopf saß. Seine großen Augen lagen tief in den Höhlen und strahlten eine eigenartige, traurige Ruhe aus, und sie kamen mir bekannt vor.
Doch, solche Augen hatte ich schon einmal gesehen. Ich kannte diesen Blick: Er ruhte auf einem Gegenstand und fokussierte doch irgendetwas jenseits davon; er hatte eine unirdische Perspektive und war doch erdgebunden und traurig, ertrug still das ewige Missverständnis der Welt. Ich hatte einmal tief in solche Augen geschaut, und sie hatten mich beunruhigt. Doch anfangs war mir nicht klar, an wen genau sie mich erinnerten.
Erst einige Zeit später, als ich kurz vor Feierabend noch einmal einen Blick auf das Bild warf, fiel es mir ein: Könnten das die Augen von R. sein?
Aber R. war kein Mathematiker, oder etwa doch? Außerdem ähnelte das Gesicht mit R.s Augen darin in nichts dem seinen. Er
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