Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
die Hochzeit des Jungen rückte leise näher und verstrich ohne ein Zeichen von ihm. Trotz meiner Sorge um sein Schicksal beschloss ich, mein Leben weiterzuleben und mich nicht weiter darum zu kümmern. Was auch immer ihm zustieß, es war nicht meine Schuld, sagte ich mir immer wieder.
Ein Monat ging ins Land. Dann drei Monate. Zwischenzeitlich kam mir zu Ohren, dass die Familie der Braut erbost die kärgliche Mitgift von R.s armer Mutter zurückgefordert hatte.
Es zerriss mir das Herz, wenn ich mir R. – der keinerlei gesellschaftliche Umgangsformen kannte und noch nie zuvor aus unserem Dorf herausgekommen war – nun mutterseelenallein und verloren irgendwo im weiten Südindien vorstellte. Ich malte mir aus, wie es ihn zum Äußersten trieb – wie er hungernd am Straßenrand saß oder sich in Verzweiflung ins Meer stürzte. Tief im Inneren verfluchte ich die Eisenbahn dafür, dass sie den hilflosen Jungen hatte verschwinden lassen. Weshalb gab es so etwas überhaupt? Wozu sollte es gut sein, so schnell zu reisen? Ich fragte mich sogar, ob vielleicht Dhanu dahintersteckte, ob er R. irgendeine Lüge aufgetischt hatte, damit er abreiste; doch meine späteren Gespräche mit Menschen, die auf dem Bahnsteig gestanden hatten, bestätigten mir, dass R. aus freien Stücken in den Zug gestiegen war, ohne ein Wort zu sagen.
Ich unterdrückte meine Angst und versicherte mir weiterhin, dass sein Verschwinden mich nichts mehr anging. Doch als ich eines Abends auf dem Heimweg im Staub am Straßenrand eine Reihe von Strichen und Kratzspuren entdeckte, verfiel ich in panische Aufregung. Stammte das von R.? War er zu uns zurückgekehrt? Ich bückte mich, besah mir die Rillen und Furchen und versuchte, irgendetwas Vertrautes in ihnen zu erkennen. Ich zeigte sie sogar zwei Damen, die gerade des Weges kamen. »Was hat das Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«, fragte ich sie. Doch ihre befremdeten Blicke zeigten mir, was ich für ein Narr war, denn das vor mir waren nur die hektischen Pfotenspuren zweier kopulierender Straßenköter!
Eine bleischwere Enttäuschung legte sich auf mich. Der Junge war ganz und gar verschwunden, und mir wurde in jenem Moment klar, dass meine Beschäftigung mit ihm, obwohl ich es nach außen hin leugnete, ein besorgniserregendes Maß erreicht hatte. Ein Gedanke ließ mich nicht mehr los: Dass R.s Schriftzeichen irgendeine Botschaft an mich enthielten. Sein Schreiben, Sinnbild und Ursache meiner misslichen Lage, war zugleich der Schlüssel, dieser zu entkommen. Und nun hatte ich es mir selbst zuzurechnen, dass R. und die Bedeutung seiner Botschaft für immer verloren waren.
Tief bekümmert begann ich, lange Vormittage im Krishna-Tempel zu verbringen. Ich sah dem Priester bei der Puja-Zeremonie zu und setzte mich dann zu einer Gruppe von Gelehrten, um in ihren Singsang von Bhagavad-Gita-Versen einzustimmen. Ich fand Trost in der Monotonie des Gebets, in dem Gedanken, dass meine gemurmelten Worte vielleicht eine Verbindung mit dem Reich des Spirituellen fanden. Doch in der Stille der Meditation schweiften meine Gedanken ab. Konnte es sein, so überlegte ich, dass R.s Schriftzeichen vielleicht selbst eine Art Gebet gewesen waren? Und wenn mich meine Gebete näher zu Gott brachten, könnte ich dann vielleicht R.s Aufenthaltsort näher kommen, indem ich zu ihm betete? Ich versuchte es: Ich meditierte und stellte mir dabei sein Gesicht vor, wiederholte seinen Namen – bis mich die Frevelhaftigkeit dessen, was ich da gerade versuchte, zu sehr beunruhigte.
Und eines Morgens, als ich nicht mehr schlafen konnte, ging ich in der ersten Dämmerung in mein Büro und trat vor die Jutesäcke voller Post, die am Tag zuvor aus Madras gekommen waren und von denen einige hier verteilt und andere sortiert werden mussten, zum Weitertransport zu anderen Bahnhöfen entlang der Strecke. Auf einmal kam mir der Gedanke, dass sie eine Nachricht von dem Jungen enthalten könnten. Ich schüttete die Säcke aus und verteilte die Sendungen auf dem Boden – so viele Briefe, so viele Menschen, die einander etwas mitzuteilen hatten! Nichts davon war von Bedeutung. Ich brannte nur auf den einen Brief; er wäre in unleserlichem Gekritzel verfasst, aber er enthielte eine tiefe und beruhigende Botschaft, weil er bedeuten würde, dass R. am Leben war und mit mir in Kontakt zu treten versuchte. Mit der Geduld des Wahnsinnigen hockte ich auf dem Boden und nahm Brief für Brief in die Hand, bis Dhanu kam, um seinen Morgendienst anzutreten. Er
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