Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
fasste mich an der Schulter und führte mich sanft zu meinem Schreibtisch, und ich setzte mich daran und weinte leise, während er das Büro aufräumte. (Setzte mich daran und weinte? Mein Bester, sieh dir mein Foto an; findest du wirklich, ich sehe aus wie jemand, der sich einer solchen Weichherzigkeit hingeben würde?)
Warum hatte ich R. so barsch von mir gewiesen? Es schmerzte mich sehr zu erkennen, dass meine Sorge um den Jungen zu langsam, zu bruchstückhaft und zu spät gekommen war – ein nicht mehr gutzumachender Fehler. R. ward in unserem Dorf nach jenem Tag tatsächlich nie mehr gesehen. Warum hatte ich nicht auf diesen Jungen achtgegeben, der für die Welt schon immer – doch jetzt so unwiederbringlich – verloren war?
Als ich zum letzten Mal seine Mutter besuchte – ich hatte etwas Kleingeld und ein Essenspaket dabei –, drang das Jammern der Alten durch ihr Fenster bis auf die Straße. Trotz ihres einsamen Wehklagens gingen die Menschen im Haus und in den Nachbarhäusern weiterhin munter ihrem Tagwerk nach. Ob sie wirklich weinte und ob R. wirklich fort war, ließ sich nicht sagen, so wenig, wie es die Menschen dort auf der Straße zu kümmern schien. Aber vielleicht hatten sie keine Lust zuzugeben, was sie in erster Linie nicht begreifen konnten: dass R.s Abwesenheit so vollkommen, so tief und rätselhaft war wie jene widerspenstigen Buchstaben, die er in meinem Namen zu Papier gebracht hatte.
Meine eigene Hochzeit, wie Sie erleichtert, wenn auch ohne Erstaunen hören werden, wurde schließlich doch nicht abgesagt. Auch bei der Eisenbahn behielt ich eine relativ sichere Position. Die Familie der Braut sah natürlich ein, dass die Schmach für sie ebenso groß gewesen wäre wie für meine Familie, wäre sie an einem so öffentlichen Fiasko wie einer geplatzten Hochzeit beteiligt gewesen, und folglich heirateten wir mit großem Pomp vor etwa zweihundert Gästen.
Das Eheleben war zugleich besser und schlechter, als ich erwartet hatte. Zuerst empfand ich meine Frau als rechte Plage. Nach Feierabend mit diesem neuen Menschen in meinem Leben zurechtkommen zu müssen, das war so, als würde man sich schlafen legen und feststellen, dass das Bett voller Moskitos ist – man hatte sich nach etwas Bequemem und Vertrautem gesehnt, fand aber nichts als Ärger vor. Soll ich Ihnen ein Beispiel nennen? Ungezählte Male kam ich aus dem Büro nach Hause und hatte noch nicht einmal die Zeit gehabt, mir die Füße zu waschen, da sah sie bereits mürrisch von ihrer Arbeit auf und rief mir zu: »Sagst du mir denn nicht einmal Hallo ?«
Es stimmt, mit der Zeit wuchs mir das Mädchen ein wenig ans Herz, wie eine Freundin oder Schwester, oder die Schwester einer Freundin – jemand, den ich neckte und beschimpfte, der sich meiner Mutter jedoch als große Hilfe erwies und auf den auch ich schließlich mehr und mehr angewiesen war.
Erst zwei Jahre nach der Hochzeit oder noch später wurde unser Verhältnis richtig schlecht. Ich ging eines Abends aus dem Haus und hoffte, etwas Entspannung bei einem neuen Freund zu finden, einem jungen Mann namens Rishikesh, der zwei- oder dreimal bei uns gewesen war, um die Wände in unserer Küche zu kalken, und sich überdies als geschickter Kletterer erwiesen hatte und auf die Palme in unserem Garten stieg, um die Kokosnüsse herunterzuschneiden. Dieser talentierte junge Rishu wurde mir ein liebenswürdiger und zärtlicher Freund, eine angenehmere Gesellschaft als Dhananjayan, dessen tägliche Anwesenheit im Bahnhof ich kaum noch ertrug. Ich dachte sogar recht ernsthaft darüber nach, Dhananjayan durch den munteren Rishikesh zu ersetzen, auch wenn Dhanu mich unter Tränen angefleht hatte, ihn nicht zu entlassen, wobei er allerdings die Frechheit besaß zu behaupten, alle Nachbarn sähen ihn schief an, jetzt, wo er bei mir gearbeitet habe, und er werde große Schwierigkeiten haben, je wieder eine vergleichbare Stelle zu finden.
Wie dem auch sei, als ich zur Tür hinausging, um diesen neuen Freund Rishu zu besuchen, rief meine Frau nach mir und fragte, wohin ich gehe.
»Wozu willst du das wissen?«, entgegnete ich. »Ich kann gehen, wohin ich will.«
»Dann eben nicht«, sagte sie. »Ich weiß auch so, wo du hinwillst.« Und als ich mich zum Gehen wandte, fügte sie noch hinzu (mit solch gehässigem Spott in der Stimme!): »Aber die Ehemänner von anderen Frauen – andere Männer –, machen so etwas nicht.«
All die Wut, all der schmachvolle Zorn, den ich je in mir gehabt hatte,
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