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Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Titel: Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rajesh Parameswaran
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war pausbäckig gewesen, nicht blass und hohlwangig wie der Mann auf dem Bild. Sein Kopf war bis auf einen kleinen Pferdeschwanz kahl rasiert gewesen; er hatte keine gepflegte, wallende Mähne wie dieser »Rogerson« gehabt. Soweit ich mich erinnerte, war seine Nase knochig und vorn etwas rund gewesen, nicht so breit und flach. Tagsüber trug R. nur das Hemd, das ich ihn hatte kaufen lassen, und wenn er nicht bei der Arbeit war, ging er ganz ohne Hemd. Mit einer Krawatte hätte er gar nichts anzufangen gewusst! Und die Zeichen, die R. zu kritzeln pflegte, sahen nicht nach irgendeiner Art von Mathematik aus, die ich oder irgendjemand anders je studiert hätte. Und natürlich hieß R. nicht »Rogerson«.
    An jenem Tag las ich gespannt die anderen Zeitungen, um zu sehen, ob diese Geschichte sonst noch irgendwo erwähnt wurde, suchte nach irgendeinem Detail zur Bestätigung, doch vergebens. Schließlich riss ich das Foto heraus und verließ eilig den Bahnhof.
    Später schalt ich mich für diese Torheit. Die Vorstellung, dass R. – der sich kaum selbstständig anziehen oder den halben Kilometer von zu Hause bis zum Bahnhof gehen konnte, ohne sich dabei zu verlaufen – es mit dem Dampfschiff irgendwie nach Amerika geschafft, eine Stelle an einer renommierten Universität bekommen und ein altes mathematisches Rätsel gelöst haben sollte (ich hatte meinen ehemaligen Mathematiklehrer nach dem Leumens-Paradoxon gefragt, und obwohl sich der größte Teil seiner Antwort meinem Verständnis entzog, begriff ich in etwa, dass es mit der Unmöglichkeit zu tun hatte, eine gleichmäßige oder perfekte Figur namens »Parallelogramm« zu bilden, indem man vier gegebene oder imaginäre Punkte verbindet, die ähnliche, identische oder austauschbare Positionen auf jeweils einem von mehreren Gittern hatten, jedoch durch tatsächliche oder gedachte Dimensionen oder Faktoren der Unmöglichkeit, ja selbst durch Raum und Zeit voneinander getrennt waren – ein aussichtsloses Unterfangen, es sei denn, man bildete eine Figur, die scheinbar existierte, in Wirklichkeit aber doch nicht), die Vorstellung also, dass R. ein solches Rätsel gelöst und sich dabei internationale Anerkennung erworben haben sollte – nun, das war alles so wundersam, dass ich das deutliche Gefühl hatte, ich müsse verrückt sein, so etwas zu glauben. (Nicht verrückt, darf ich einwerfen. Vielleicht auf dem Holzweg, aber nicht verrückt. Die Frage lautet eher: Bist du verrückt, dass du dir einbildest, du könntest dich in mich hineindenken? Dass du glaubst, nur weil du ein altes Foto findest, das die nostalgische Seite in dir anspricht, könnte deine verdrehte Fantasie die Lücken ausfüllen? Bist du übergeschnappt, dass du glaubst, du könntest diese seltsame Geschichte erzählen, dieses absurde Zwiegespräch zwischen uns beiden erschaffen? Dass du glaubst, ich, der ich zweifellos tot bin, wäre dir so nah, dass du förmlich meinen Atem spürst, während ich dir ins Ohr flüstere? Vielleicht sind wir verwandt, du und ich; doch so sind alle Menschen verwandt. Wahrscheinlicher ist es, dass ich nur in der Vorstellung existiere, aber muss man sich nicht von jedem Menschen eine Vorstellung machen? Verrückt? Ebenso verloren, wie ich es für dich bin, war R. für mich verloren, daran gab es nichts zu rütteln – wie Menschen, die uns so nah sind, doch unerreichbar werden können, und wie Unerreichbare uns so nah scheinen: Da hast du dein Paradoxon. Dennoch sehnte ich mich nach seiner Nähe, und in meinem Sehnen erschuf ich sie mir. Ich bin nicht verrückt – während du diese Worte hörst, die Hand an all den Jahren vorbei nach meinem Gesicht ausstreckst –, nicht verrückt, nein.)
    Doch wie dem auch sei, nein: Die Augen, die mich von jenem Zeitungsbild ansahen, auch wenn sie mir vertraut vorkamen, waren nicht – konnten nicht R.s Augen sein. Ich zog diesen Schluss voller Bedauern, denn welch ein Trost wäre es gewesen zu wissen, dass R. einen solchen Erfolg erzielt hatte. In welch freudige Erregung hätte mich die Vorstellung versetzt, dass diese verwischten und verworrenen Zeichen – und nicht nur die Zeichen, sondern mein ganzes Leben, die Welt – sich in knappe und gut leserliche Klarheit aufgelöst hatten, voll Glück verheißender Bedeutung! Wie hätte mich die Erkenntnis verblüfft, dass der Junge die ganze Zeit einen Plan verfolgt und seinem Gekritzel nur ein Publikum gefehlt hatte, das in der Lage war, es zu verstehen. Zu schade: Unser R. war kein Genie,

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