Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
Seiten. Was für geschliffene Dialoge! Welch unerwartete Wendungen des Plots! Was für interessante Figuren!
Es ist ein gewichtiges Drehbuch. Ein Drehbuch, das (wie ein gewisser A. O. Scott in einer New Yorker Zeitung über Jogeshs letzten Film schrieb) »in das Leben hineinsieht und dort die Steine entdeckt, die Felsbrocken, unter denen wir alle uns leise versteckt hielten und die wir den Himmel nannten«.
Allmählich machen sich wieder meine Kopfschmerzen und mein nervöser Magen bemerkbar. Nach der Hälfte lege ich das Manuskript völlig verzweifelt weg, die aufgeschlagenen Seiten nach unten. Mein eigenes Drehbuch – wie soll es daneben bestehen? Ich streiche mit dem Finger durch die Kaffeetasse und lecke niedergeschlagen den zuckrigen Bodensatz ab.
Ich habe zwei Jahre gebraucht für mein Drehbuch – zwei Jahre, nach den dreiunddreißig, die Nirmala und ich bereits durchlitten haben. Es ist das Opus meines Lebens, und es dreht sich um die ausgelassenen Tage der Jugend: Ein junger Mann, eine kreative Seele mit dem Traum vom großen Erfolg, und der gewundene Weg des Lebens, der ihn bald hierhin, bald dorthin führt. Sein enger Vertrauter und Busenfreund, ein hochmütiger und ernster Zeitgenosse. Und die Frau, die zwischen die beiden tritt.
Über zwei Jahre hinweg habe ich es mir mühsam abgerungen. Ich schickte es an ausländische Produzenten, bekam aber eine Absage nach der anderen. An indische Produzenten konnte ich mich ja nicht wenden, denn sie hatten alle Respekt vor Jogesh. Und so kam es, dass ich meine Angel blind nach Hollywood auswarf (»Sehr geehrter Herr Sowieso, mit großer Bewunderung habe ich Ihren Film XY gesehen, und ich bin überzeugt, dass es Sie interessieren wird, mein …«), bis ich endlich die E-Mail eines unabhängigen Filmproduzenten namens Jefferson Bundy aus Kalifornien erhielt, mit dem enttäuschend schmucklosen Betreff: »will sie treffen!!!«.
Ich denke mir oft: Hal Pereira, Merrill Pye, Henry Bumstead. Wem sagen diese Namen in der allgemeinen Öffentlichkeit schon etwas? Es sind Hitchcocks fabelhafte Art-Direktoren, doch welche Anerkennung bekommen sie für ihre wunderbare Arbeit? Wenn ich nicht selbst einen Film drehe, bin ich dazu verdammt, genauso in Vergessenheit zu geraten. Aber als ich Jogeshs Drehbuch lese, komme ich mir allmählich vor, als wäre ich einem solchen Unterfangen absolut nicht gewachsen.
Um mich zu beruhigen, nehme ich meinen Skizzenblock aus dem Koffer. Ich zeichne schnell und mit der üblichen Befriedigung, habe sofort die bewegten Bilder vor Augen, die Farbgestaltung von Sequenzen und Figuren. An den Rand schreibe ich Kommentare zu Kostümen oder Vorschläge, welche Szenen an Originalschauplätzen gedreht werden könnten und für welche sich kostengünstig Kulissen bauen ließen.
Erst als mein Magen grummelt, stelle ich fest, dass beim angenehmen schöpferischen Tun mehrere Stunden vergangen sind. Ich lege den Bleistift weg und strecke den Rücken und die Beine. Noch immer von einem gewissen Schwindel getragen, beschließe ich, einen kleinen Spaziergang zu machen und nach ein paar netten amerikanischen Klamotten für meinen Termin am Samstag zu suchen. Ich hinterlege die Storyboards, so weit ich sie fertig habe, an der Rezeption, damit Jogesh sie sich später abholen kann. Unsere letzte Zusammenarbeit, denke ich freudig, wenn auch nicht ohne ein gewisses süßes Bedauern.
Ich trete hinaus in den kühlen, sonnigen Tag. Das schöne Wetter macht mich noch beschwingter, meine Beine kommen mir federleicht vor. In einem kleinen Imbiss kaufe ich mir ein paar Stücke Pizza und esse sie im Gehen, und der heiße Käse verbrennt mir mit einem angenehm stechenden Schmerz den Gaumen. Es macht mich froh, mitten unter all den Menschen zu sein, die zwar genauso wahnsinnig von A nach B hetzen wie in Kalkutta, aber schön angezogen sind und auf dem sauberen Gehweg in der kühlen, frisch riechenden Luft wandern! Ich wünschte nur, Nirmala könnte den Nachmittag mit mir verbringen. Leider hat Jogesh der Ärmsten keine andere Wahl gelassen, als mit ihm zu einem sterbenslangweiligen Lunch zu gehen. Bis sich die Umstände für uns ändern, sieht sie sich gezwungen, weiterhin die pflichtgetreue Ehefrau zu spielen.
Unterdessen habe ich Zeit, die Stadt zu genießen. Ich betrete das Bergdorf-Goodman-Kaufhaus, ah, ah! Was ist das alles schön. Die Preise liegen zwar etwas über meinem derzeitigen Niveau, aber ich unterdrücke meine genügsamen Instinkte (ein Art-Direktor hält
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