Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
ihrem Alter überlegen. Sie war es ganz einfach. Das war kaum zu übersehen.
Doch ein paar Monate später überraschte sie uns. Wir fraßen gerade von den Bäumen auf der kahlen Seite eines Hügels, die Blätter und sogar die dünnen Enden der Zweige, und entrindeten die Stämme. Wir weideten verstreut hier und da und verloren einander zeitweilig aus den Augen, behielten aber die Orientierung, indem wir laut brüllten und auf die herüberwehenden Antworten unserer Schwestern warteten. Doch dann kam irgendwo aus der Ferne der Ruf von Koni, eine Art abgehackter Urschrei, ein markerschütterndes Wehklagen, und wir verstanden nicht, was es zu bedeuten hatte. Wir spürten, wie uns der Magen absackte, und zitternd vor Angst stellten wir die Ohren auf und erstarrten. Die alte Iala entleerte in höchster Not ihre Blase und drehte sich dann um, als wollte sie fliehen – wir alle sahen es. Doch meine Mutter ließ ein langes, tiefes Grollen ertönen, das über den Dschungelboden rollte und das Gras niederwalzte: als Bestätigung, als Antwort an Koni und als unmissverständliche Anweisung an den Rest von uns. Dann rannten wir alle los, sogar die nervöse und beschämte Iala, die aufgeregt mit den Ohren wedelte, und Kinder wie ich hatten Mühe, in der riesigen Staubwolke nicht die Hinterteile unserer Mütter zu verlieren. Wir preschten vorwärts, wie Elefanten es nun mal tun – rissen dabei Bäume um und zertrampelten die bedauernswerten kleinen Säugetiere auf dem Dschungelboden –, bis wir Koni schließlich auf einer Lichtung vorfanden, wo sie über einem grausamen Fund wachte: einem riesigen, vertrauten Kadaver.
Hinweis
Ich kannte den toten Bullen. Er kam unsere Familie einmal im Jahr besuchen, und ich fürchtete diese Besuche aus meinem tiefsten Inneren. Man roch ihn schon eine Stunde vorher: ein düsterer, penetranter Geruch, der sich nicht allmählich ausbreitete, sondern wie eine Wolke in der Regenzeit auf einmal da war. Meine Tanten und Cousinen hoben den Rüssel und schnupperten, und kaum dass sie ihn witterten, gerieten sie regelrecht in Ekstase, brüllten sich gegenseitig an und pinkelten vor Aufregung in die Büsche.
Wenn der Bulle dann da war, brach er ohne Umschweife durch die angrenzenden Bäume, mit fest geschlossenem Unterkiefer, ausgestrecktem Rüssel und wild entschlossenem Blick. Links und rechts an seinem Gesicht und an den Innenseiten seiner Schenkel rann ein schwarzes Sekret herunter, und sein riesiger Penis hing schlaff herab und sonderte eine trübe Flüssigkeit ab. Zwei gewaltige Stoßzähne zogen seinen Kopf nach unten und berührten fast den Boden, wobei der linke abgebrochen und an der Spitze gezackt war.
Die geschlechtsreifen unter den Jungtieren waren ganz außer sich, senkten vor ihm die Köpfe und scharrten in nervöser, bereitwilliger Unterwürfigkeit mit den Füßen. Sogar Manami und Iala und meine anderen sonst so würdevollen Tanten schwänzelten aufgeregt um diesen kräftigen Bullen herum und schwenkten dabei peinlich offensichtlich das Hinterteil. Aber er beachtete sie gar nicht. Er hatte sich bereits eine muskulöse Kuh ausgeguckt, die etwas abseits stand, meine Mutter. Sie zupfte Blätter von Bäumen, schlug dabei lässig mit den Ohren und sah nur ab und an zu dem Besucher hinüber. Der Bulle ging zu ihr, doch meine Mutter lief einfach weg. Er lief schneller, aber meine Mutter entkam ihm und führte ihn tiefer in den Wald. Am wandernden Wogen der Baumwipfel sah man, wie sie sich immer weiter ins schützende Dickicht begaben. Und dann war es still im Wald.
Nach etwa vier Tagen kehrte meine Mutter ruhig und erschöpft allein zurück. Sie trottete direkt zu mir, um nach mir zu sehen und mir die Brust anzubieten, an der ich verwirrt, aber dankbar und ausgehungert trank. Meine Tanten nahmen ihre eingespielte oder angeborene Rangordnung wieder auf und befolgten reflexartig Amutas Anweisungen, ohne dass eine von ihnen einen Rüsselschwung über ihre Abwesenheit verloren hätte. Aber auch wenn meine Tanten keinen Groll auf ihn hegten – ich war schon sauer auf ihn, diesen geheimnisvollen Bullen, der das Einzige war, was meine Mutter von ihrer Tochter und der Herde trennen konnte.
Genau dieser Bulle lag nun übel zugerichtet auf dem Dschungelboden, ein blutiger Koloss.
Hinweis
Dort, wo einst seine Stoßzähne herauskamen, klafften jetzt rote Löcher, und sein Bauch pulsierte von wimmelnden Maden.
Der Anblick des Kadavers hatte eine unmittelbare Wirkung auf unsere Herde. Meine Tanten und
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