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Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)

Titel: Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rajesh Parameswaran
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anderen eine Anweisung, und zwar die, uns unserem Schicksal zu überlassen. Sie befahl ihnen zu gehen.
    Daraufhin scharrten die Elefanten unsicher mit den Füßen. Sie blickten sich um, als wären sie taub, denn was sie gehört hatten, würde ihnen etwas abverlangen, was sie nicht gutheißen konnten.
    Geht ohne mich, forderte Mutter sie noch einmal auf; ihr müsst jetzt selbst für euer Überleben sorgen. Wer auch immer diese Falle gestellt hat, er wird mit Sicherheit zurückkehren, sagte sie. Man könne nichts tun, als zu gehen, und zwar sofort. Sie sei schon so gut wie tot, und wenn die Herde bis zum Ende bei ihr bleibe, bedeute das auch deren eigenes Ende. Um ihrer Botschaft Nachdruck zu verleihen, rammte Mutter den Kopf gegen die Grubenwand, der Boden über uns erzitterte und Erde regnete auf uns herab.
    Doch die Elefanten tauschten bloß bange Blicke aus. Sie sahen zu uns herab,
Hinweis
brüllten irgendetwas Unverständliches und sahen einander wieder an. Sie regten sich immer noch nicht.
    Vielleicht wussten sie nicht, wie sie sich bewegen sollten, wie sie ohne Amutas leibhaftige Präsenz auch nur den einfachen Befehl ausführen sollten, sich umzudrehen und zu gehen. Die blaue Öffnung war von ihren fassungslosen Gesichtern umringt. Meine Cousins und Cousinen, eigentlich verspielte Kälber und anmutige junge Kühe, und meine stattlichen, sonst so starken und imposanten Tanten waren jetzt nur noch ein Ausbund an Unruhe und Hilflosigkeit; meine jüngeren Brüder und Schwestern scharrten wie wild mit den Füßen, schwenkten die Köpfe und riefen mit tränenüberströmten Gesichtern nach uns.
Hinweis
    Mutter ließ sich nicht beirren. Der Ernst der Lage war ihr vollkommen bewusst. Sie brüllte die Herde an, redete mit Engelszungen auf sie ein, versuchte auf hundert verschiedene Arten, die Elefanten doch noch zu überzeugen, aber sie hörten nicht auf sie.
Hinweis
Denn meine Mutter war die Herde. Ohne sie konnte sie nicht funktionierten.
    Sind sie schließlich gegangen? Ich weiß es nicht. Jedenfalls verschwanden ihre traurigen, schönen Gesichter aus unserem Blickfeld, aus dem Loch. Ich hatte Durst. Mein Bruder, mein namenloser kleiner Bruder, lag reglos da und atmete flach. Meine Mutter hockte im Dunkeln, und über uns legte sich die Stille der Nacht.
    Wir sollten die Herde nicht mehr zusammen und lebend wiedersehen.
    In dieser letzten Stille war auch Mutter still, gab bloß gelegentlich einen Laut von sich. Alle Hoffnung war dahin, und in ihrer Hilflosigkeit blieb ihr nur noch, mich zu trösten.
Hinweis
Sie war überzeugt, dass wir alle sterben würden, und lehnte sich nicht mehr dagegen auf. Ihre Verzweiflung war jetzt stiller, doch dafür umso umfassender. Wir hatten keine Wahl mehr, unser Schicksal war besiegelt und unsere Taten reif für ein Urteil, und Mutter war klar, dass sie versagt hatte. Ich fürchtete ihre Hoffnungslosigkeit mehr als mein eigenes Schicksal; ich fürchtete ihre Trauer, ihren letzten, unüberwindlichen Schmerz, der selbst in seiner Stille in jenen letzten Stunden in dem düsteren Loch mit Rüsseln zu greifen war.
Hinweis
    Am Morgen kam das Licht, und die Geräusche waren wie an jedem Morgen. Und wie sonst auch entleerte ich meine Blase und setzte Stuhl ab, direkt auf den Boden unter mir, sogar auf meinen sterbenden Bruder. Ich konnte nicht anders.
    Zuerst hörten wir die Alarmrufe, dann ließen die stampfenden Füße unserer Schwestern den Boden erzittern. Diese Geräusche verrieten uns, dass sie nicht weit gekommen waren in der Nacht, ja, dass sie sich gar nicht aufgemacht hatten. Konfuses, chaotisches Getrappel. Und dann setzten die Schreie ein, von nah und von fern: panische, schmerzerfüllte Schreie. Wir sahen natürlich nicht, was vor sich ging, worin die Gefahr bestand und wer gerade sein Leben ließ. Wir konnten es uns nur ausmalen.
    Stundenlang, so schien es, gellten diese schrecklichen hilflosen Schreie. Es waren die schlimmsten Momente meines Lebens; ich war sogar noch mehr in Panik als jetzt in diesem Moment. Mutter starrte mit einer schrecklichen Intensität im Blick zu Boden, in dem vollen Bewusstsein, dass gerade ihre Herde ausgelöscht wurde und sie nichts dagegen tun konnte.
    Als die Schreie endlich verstummten, hörten wir Geräusche, die wir nicht zuordnen konnten, Schritte von Elefanten oder anderen Tieren, Rufe und Schreie uns unbekannter wilder Bestien.
    Dann wurden raue Lianen zu uns ins Loch geworfen und mithilfe von Stöcken um mich und meine Mutter gelegt.

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