Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
einige Regale. Adam hat Konservendosen und unverderbliche Lebensmittel mitgebracht, und wir haben beide Toilettenartikel und Kleidung zum Wechseln dabei. Wir könnten in jedem Fall eine Weile überleben.
James nimmt eine Aluminiumschale aus dem Kühlschrank und macht Anstalten, sie in die Mikrowelle zu stellen.
»Warte – James – nicht«, rufe ich.
Er starrt mich erschrocken an. »Was ist?«
»Die Alufolie – Metall – darf nicht in die Mikrowelle –«
»Was ist eine Mikrowelle?«
Ich blinzle so verwirrt, dass das Zimmer vor meinen Augen verschwimmt. »Wie …?«
James zieht den Deckel des Containers ab. Darin liegt ein kleines Quadrat, das wie ein Suppenwürfel aussieht. James deutet darauf und weist mit dem Kopf auf die Mikrowelle. »Kein Problem. Ich stell das immer in den Automaten. Da passiert nichts.«
»Das Gerät vervielfältigt die molekulare Zusammensetzung der Nahrung.« Adam tritt zu mir. »Zwar erhöht es nicht den Nährwert, aber man fühlt sich länger satt.«
»Und es ist billig!«, sagt James grinsend, als er die Schale wieder in den Kasten stellt.
Ich staune, wie viel sich verändert hat. Inzwischen sind die Menschen so verzweifelt, dass sie Essen fälschen.
Ich habe so viele Fragen, dass ich fast platze. Adam drückt mir die Schulter und sagt: »Wir reden später, ich versprech es dir.«
Ich komme mir vor wie ein Lexikon mit zu vielen leeren Seiten.
James schläft mit dem Kopf auf Adams Schoß ein.
Nach dem Essen hatte er geredet wie ein Wasserfall, hatte von seiner Schule und seinen Freunden und Benny erzählt, der alten Dame, die sich um ihn kümmert. »Ich glaube, sie mag Adam lieber als mich, aber manchmal steckt sie mir heimlich Zucker zu, also mag sie mich wohl auch ein bisschen.« Es herrscht Ausgangssperre. Nach Sonnenuntergang dürfen sich nur Soldaten draußen aufhalten. Sie sind bewaffnet und haben die Erlaubnis, nach Gutdünken zu schießen. »Manche Leute kriegen mehr Essen als andere«, sagte James. Diese Personen sind für das Reestablishment besonders wichtig; sie werden keinesfalls aus humanitären Gründen besser behandelt.
Je mehr James erzählte, desto mehr schmerzte mir das Herz.
»Stört es dich, dass ich so viel rede?« James biss sich auf die Unterlippe und betrachtete mich forschend.
»Überhaupt nicht.«
»Alle sagen immer, ich rede so viel.« Er zuckte die Achseln. »Aber was soll ich machen? Ich hab halt so viel zu erzählen.«
»Ach, übrigens«, warf Adam ein, »du darfst niemandem sagen, dass wir hier sind, ja?«
James starrte seinen Bruder mit offenem Mund an. Blinzelte ein paar Mal. »Nicht mal Benny?«
»Absolut niemandem«, antwortete Adam.
Einen kurzen Moment lang blitzte das Verständnis in James’ Augen auf. Ein Zehnjähriger, dem man bedingungslos vertrauen kann. Er nickte mehrmals. »Ist gut. Ihr wart nie hier.«
Adam streicht James ein paar widerspenstige Haarsträhnen aus der Stirn. Betrachtet das Gesicht seines schlafenden Bruders, als sei es ein Gemälde, das er sich genau einprägen wolle. Ich wiederum betrachte Adam.
Ich frage mich, ob er weiß, dass er mein Herz in Händen hält. Mein Atem ist zittrig.
Adam schaut auf, und ich senke den Blick. Wir sind beide verlegen.
Er flüstert »Ich sollte ihn wohl ins Bett legen«, rührt sich aber nicht. James schläft tief tief tief.
»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«, frage ich leise.
»Etwa vor einem halben Jahr.« Adam hält inne. »Aber wir haben oft telefoniert.« Er lächelt. »Ich hab ihm viel von dir erzählt.«
Ich laufe rot an. Zähle meine Finger. »Hat Warner dein Telefon nicht abgehört?«
»Doch. Aber Benny hat eine geheime Leitung, und ich habe auch nur allgemein bekannte Sachen gesagt. Jedenfalls weiß James schon lange von dir.«
»Wirklich …?« Ich bin böse auf mich, weil ich es unbedingt wissen will, aber ich kann nicht anders. Tausend Schmetterlinge flattern in mir umher.
Adam hebt den Kopf und blickt ins Leere. Schaut dann mich an. Seufzt. »Ich habe nach dir gesucht seit dem Tag, an dem du verschwunden bist, Juliette.«
Meine Augen weiten sich, mein Mund fühlt sich an wie ein Scheunentor.
»Ich hatte Angst um dich«, sagt Adam ruhig. »Ich wusste nicht, was die mit dir machen würden.«
»Warum?«, frage ich atemlos. Verschlucke mich fast. »Warum wolltest du das wissen?«
Adam lehnt sich auf der Couch zurück. Streicht sich übers Gesicht. Die Jahreszeit schlägt um. Sterne explodieren. Jemand spaziert auf dem Mond umher. »Ich
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