Ich fürchte mich nicht: Roman (German Edition)
erinnere mich sogar an den Tag, als du zum ersten Mal in der Schule aufgetaucht bist.« Er lacht, leise und ein wenig traurig. »Ich war noch ein Kind und wusste wenig über die Welt, aber etwas an dir hat mich von Anfang an fasziniert. Ich wollte in deiner Nähe sein – irgendwie hast du so etwas Gütiges ausgestrahlt, was es in meinem Leben nicht gab. Etwas Liebevolles. Ich wollte dich jedenfalls sprechen hören. Wollte, dass du mich siehst, mich anlächelst. Jeden Tag habe ich mir fest vorgenommen, dich anzusprechen. Ich wollte dich kennenlernen. Aber ich war immer zu feige dazu. Und dann warst du plötzlich verschwunden.
Die Gerüchte habe ich schon mitgekriegt, aber ich wusste, dass sie nicht wahr waren. Ich wusste, dass du niemals jemandem etwas zuleide tun würdest.« Er schaut unter sich. Die Erde spaltet sich, und ich stürze in den Abgrund. »Ich weiß, das klingt verrückt«, sagt er schließlich ganz leise. »Dass du mir so am Herzen lagst, obwohl ich kein einziges Wort mit dir geredet hatte.« Er zögert. »Aber ich musste immerzu an dich denken. Habe mich immer gefragt, wo du bist. Wie dein Leben verlaufen würde. Ich hatte Angst, dass du dich niemals wehren würdest.«
Er versinkt so lange in Schweigen, dass ich mir fast die Zunge durchbeiße.
»Ich musste dich finden«, flüstert er. »Ich habe überall herumgefragt, aber niemand wusste etwas. Die Welt brach in Stücke, alles wurde immer schlimmer, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich musste mich um James kümmern und unseren Lebensunterhalt verdienen, und ich wusste nicht, ob es sinnvoll sein würde, zum Militär zu gehen, aber dich habe ich nie vergessen. Ich habe immer gehofft«, fügt er hinzu, »dass ich dich eines Tages wiedersehen würde.«
Ich habe keine Worte mehr. Meine Taschen sind voller Briefe ohne Sinn, und ich will so verzweifelt sprechen, dass ich nichts sagen kann und mir beinahe das Herz zerspringt.
»Juliette …?«
»Du hast mich gefunden.« 4 Worte. Ein ungläubiges Flüstern.
»Bist du – schockiert?«
Ich schaue auf und merke zum ersten Mal, dass Adam nervös wirkt. Beunruhigt. Unsicher, wie ich auf sein Geständnis reagieren werde. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen oder jeden Zentimeter seines Körpers küssen soll. Ich möchte zum Pochen seines Herzens im Weltall einschlafen. Ich will sicher sein, dass er am Leben ist, dass er atmet, dass er für immer stark und gesund und wohlauf ist. »Du bist der Einzige, dem ich jemals wichtig war.« Tränen steigen mir in die Augen, und ich blinzle, und meine Kehle brennt, und alles alles alles schmerzt. Das Gewicht dieses Tages bricht auf mich nieder, als wolle es mich zerschmettern. Ich will schreien vor Glück, vor Qual, vor Freude. Ich will das Herz des einzigen Menschen berühren, dem ich je etwas bedeutet habe.
»Ich liebe dich«, flüstere ich. »So viel mehr, als du ahnen kannst.«
Seine Augen sind ein Moment um Mitternacht, angefüllt mit Erinnerungen, die einzigen Fenster zu meiner Welt. Sein Gesicht ist angespannt. Er blickt auf und versucht sich zu räuspern, und ich weiß, dass er einen Augenblick Zeit braucht, um sich zu fassen. Ich sage ihm, dass er James vielleicht ins Bett legen sollte. Adam nickt, nimmt seinen Bruder auf die Arme und trägt ihn in die Kammer, die sein Schlafraum ist.
Ich schaue ihm nach und begreife plötzlich, weshalb Adam zur Armee gegangen ist.
Warum er für Warner den Prügelknaben spielte. Warum er sich dem Grauen des Krieges ausgesetzt hat, warum er unter allen Umständen flüchten wollte. Warum er sich in jedem Fall zur Wehr setzen will.
Er kämpft für so viel mehr als für sich selbst.
33
»Ich sollte mir vielleicht mal diese Schnitte anschauen.«
Adam steht vor der Tür zu James’ Kammer, die Hände in den Hosentaschen. Er trägt ein enges dunkelrotes T-Shirt. Die Tattoos auf seinen muskulösen Armen weiß ich jetzt zu deuten. Er sieht, wie ich darauf starre.
»Ich hatte keine andere Wahl«, sagt er und blickt auf die schwarzen Streifen, die man in seine Unterarme geritzt hat. »Wir mussten überleben. Ich habe keine andere Arbeit gefunden.«
Wir gehen aufeinander zu, ich berühre die Zeichnungen auf seiner Haut. »Verstehe.«
Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Er schüttelt leicht den Kopf.
»Was?« Ich ziehe rasch die Hand weg.
»Nichts.« Er grinst. Legt mir den Arm um die Taille. »Ich finde es nur immer wieder so irre. Dass du hier bist. Bei mir zu Hause.«
Mir steigt die Röte ins Gesicht.
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