Ich gegen Dich
Spiegel. Er sah böse aus. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und putzte sich die Zähne. Die Zahnpasta war fast alle, und er setzte auch das auf die Liste in seinem Kopf.
Als er aus dem Bad kam, stand Holly im Flur und aß Chips aus einer Tüte. Sie war noch im Schlafanzug.
»Was machst du da?«
»Meine Klamotten sind in unserem Zimmer, und Karyn lässt mich nicht rein. Ich hab geklopft, aber sie antwortet nicht.« Holly stopfte sich noch einen Kartoffelchip in den Mund. »Wahrscheinlich ist sie auch tot.«
»Herrgott nochmal!« Mikey hämmerte gegen die Tür.
Dann sah er auf die Uhr. Die Schule fing um neun an, also blieben ihnen nur fünf Minuten, um hinzugelangen. Wenn man zu spät kam, trugen sie den Namen in ein Buch ein.
Er fragte Holly: »Wie dringend brauchst du die Sachen, die da drin sind?«
»Schon sehr dringend.«
Um sich selbst aufzuheitern, klopfte er in einem fröhlichen Rhythmus. Bammedi bim, bam bum. Dann wie ein Polizist: Wumm, wumm, mit der Faust. So, dass es sich nach seinem vollen Ernst anhören sollte; aber Karyn rührte sich nicht.
»Du kannst sie eintreten«, sagte Holly. »Im Notfall darf man das.«
Er lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück. Er hatte vergessen, wie schön ihr Lächeln war, und weil er nicht wollte, dass es aufhörte, versuchte er es mit Sesam öffne dich und Abkrakadabra aus ihren Lieblingsmärchen. Dann gab er sich als Wolf aus, der die Tür wegpusten konnte.
»Lass mich rein, lass mich rein, damit ich dich besser fressen kann.«
Holly lächelte weiter, aber auf Karyn wirkte es nicht.
Er drückte sich dagegen, atmete auf den Lack. »Bitte, Karyn, sprich mit mir.«
Er sagte ihr, dass er ihr großer Bruder war, dem sie vertrauen konnte, und dass er alles täte, um ihr zu helfen, wenn sie nur die Tür aufmachte.
Holly hüpfte von einem Fuß auf den anderen und reckte den Daumen hoch, während Karyn den Stuhl unter der Klinke wegzog. Im Zimmer war es heiß und stickig. Karyn lag bäuchlings auf der unteren Koje des Etagenbetts, Gesicht nach unten, den Kopf im Kissen vergraben. Sie hatte immer noch ihren Jogginganzug an. Den trug sie seit Tagen, schlief mittlerweile offenbar auch darin.
Holly ging direkt zu ihr. »Warum hast du mich ausgesperrt?« Sie stupste ihre Schwester mit dem bloßen Fuß an. »Es ist auch mein Zimmer. Bloß weil dir was Schlimmes passiert ist, kannst du noch lange nicht machen, was du willst.«
Karyn drehte sich um. Sie guckte erschreckt, wie jemand, der nach Stunden im Dunkeln ins Licht blinzelt. »Was hast du da gesagt?«
Mikey ging dazwischen. »Schon gut, schon gut! Holly, hol deine Sachen und geh und zieh dich an.«
Holly schubste Karyn ein letztes Mal, ehe sie zwei Schulblusen von einem Stapel schmutziger Wäsche auf dem Boden nahm und daran roch. »Die miefen.«
Mikey nahm sie ihr ab und schnüffelte auch daran, überprüfte sie auf Flecken und hielt ihr die sauberste hin. Waschpulver kam auch noch auf die Liste in seinem Kopf.
Holly ging sehr langsam zur Tür, wo sie mit der Hand auf der Klinke stehenblieb.
»Zieh dich an, Holly!«
Er wusste, dass sie sein Gebrüll nicht leiden konnte, aber es machte ihr Beine. Sie streckte die Zunge raus, knallte die Tür zu, trampelte durch den ganzen Flur ins Bad und schmiss für alle Fälle auch dort die Tür ins Schloss.
Mikey zog einen Stuhl ans Bett und setzte sich. »Also, was ist los?«
Mit tränenüberströmtem Gesicht sah Karyn ihn an. »Mum ist weg.«
»Ja, tut mir leid.«
»Es ist wegen mir, oder? Ich hab sie verjagt.«
»Du weißt doch, wie sie ist – es braucht nicht viel, um sie aufzuscheuchen.«
»Klar liegt es an mir. Hast du gemerkt, sie hat mehr getrunken, seit das hier passiert ist. Und ständig geschlafen.«
Hinter ihr sah er aus dem Fenster Gras, auf dem Abfall verstreut lag, und andere Wohnungen. Komische Vorstellung, dass Leute mit anderen Leben noch im Bett lagen, auf die Schlummertaste ihres Weckers drückten und sich ein paar weitere Minuten in Träume flüchteten.
Karyn fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um neue Tränen wegzuwischen. »Ich versuch ja, so viel wie sonst zu helfen, aber ich krieg's einfach nicht auf die Reihe. Holly wollte vorhin Zöpfe geflochten kriegen, aber meine Hände haben so gezittert, ich hab's nicht geschafft. Wie krank ist das denn? Ich hab sie nur ausgesperrt, damit sie nicht sieht, dass ich hier am Durchdrehen bin.«
Er sah auf sein Handy. Keine Nachrichten. Vielleicht ging er einfach so zu Sienna. Sie war
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