Ich gegen Dich
Kuss auf die Stirn. Vielleicht hinterließ er einen schimmernden Fleck wie der, den die gute Hexe im Zauberer von Oz Dorothy gab.
So einen Zauber konnte Ellie jetzt gut gebrauchen.
NEUN
M ikey, biste wach?«
Holly stand in seiner Zimmertür. Er ächzte leise, hoffte, dass es sich nach Schlafen anhörte. Aber sie ging nicht weg.
»Mikey?« Sie kletterte aufs Bett und legte sich neben ihn.
Seit Wochen hatte es keinen Morgen mehr gegeben, an dem er nicht zu irgendeiner Krise aufgewacht war. Er holte tief Luft. »Was ist los?«
»Mum ist wieder weg.«
Mühsam rappelte er sich auf und rieb sich die Augen. »Hat sie in ihrem Bett geschlafen?«
»Nein.«
»Hast du unten und draußen auf dem Balkon nachgesehen?«
Holly nickte und schmuggelte ihre Hand in seine. »Und ich hab nebenan geklopft.«
»Und die haben sie nicht gesehen?«
»Nein.«
Er seufzte. Er wusste, dass seiner Mutter dieses ganze Karyn-Problem zu schaffen machte, aber das letzte Mal war sie vor gerade mal vier Wochen abgehauen. Er hätte es sich am Vorabend denken können, als sie ihm gesagt hatte, sie würde nur eben auf ein Gläschen in den Pub gehen. Tja, aus dem Gläschen musste offensichtlich mindestens eine Flasche geworden sein, was hieß, dass sie überall sein konnte. Mit jedem. Er tastete nach seinem Handy, aber seine einzigen Anrufe in Abwesenheit waren von Jacko und Sienna. Er ging die Kontakte durch.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Wir rufen sie an, okay?«
Holly kuschelte sich näher an, um mitzuhören. Nach viermal Klingeln sprang die Mailbox an. Die Stimme ihrer Mutter entschuldigte sich dafür, dass sie gerade nicht erreichbar war.
»Vielleicht ist sie tot«, sagte Holly zittrig.
»Quatsch.«
»Vielleicht ja doch. Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß alles, und sie ist nicht tot, okay?«
Er hinterließ eine Nachricht, bat sie, zurückzurufen und: Sag mir Bescheid, wo du bist und wann du wiederkommst. Schärfte ihr ein: und zwar bald, bitte.
»Das sollte reichen«, sagte Holly, als könnte er die Welt so einfach wieder in Ordnung bringen.
Er wandte sich ihr zu, konnte gerade eben noch den Glanz ihrer Augen neben sich auf dem Kissen erkennen. »In fünf Minuten«, sagte er, »stehen wir auf. Solange darfst du nur an nette Sachen denken.«
»Ist gut.« Sie verrenkte den Hals, um auf die Uhr zu sehen. »Kann ich an Fußball denken?«
»Ja.«
»Ich spiel das Alphabet-Spiel. Erst kommt Ossie Ardiles, dann Dimitar Berbatow, dann Clemence und dann Defoe.«
»Toll. Aber kannst du das bitte in deinem Kopf spielen?«
Da lag sie, den ganzen Körper angespannt vom Überlegen. Er konnte die Gedanken fast hören. Und während sie damit beschäftigt war, hörte er sich seine Nachrichten an. Sienna klang sauer: Was war gestern Abend mit dir los? Willste vorbeikommen und es wiedergutmachen? Denn ich weiß, dass heute dein freier Vormittag ist. Jacko hörte sich dringlich an: Planänderung! Meld dich, wenn du wach bist, dann komm ich vorbei und hol dich ab.
Mikey ließ sich auf das Kissen zurückfallen und fragte sich, ob sein Leben überhaupt noch schlimmer werden konnte – Karyn missbraucht, der Kerl, der ihr das angetan hatte, lief noch frei rum, Mum verschollen und jetzt auch noch Stress mit Frauen und Kumpeln. Er schloss die Augen und versuchte sich mit Gedanken an London abzulenken. Dort würde er in einem Hotel arbeiten. Er würde von Kopf bis Fuß eine weiße Kochuniform tragen und schicke Geräte haben – Auflaufförmchen, Tarteformen mit herausnehmbarem Boden und spezielle Messer. Wahrscheinlich würde er sogar mehr haben, Dinge, von deren Existenz er noch gar nichts ahnte.
Holly blieb stecken. Er merkte es ihrem Körper an, als hätte sie plötzlich Schwierigkeiten mit dem Atmen. Sie drehte sich zu ihm um: »Vielleicht ist Mum von einem Auto überfahren worden.«
»Bestimmt nicht.«
»Oder sie ist mit einem Schiff gefahren, und es ist untergegangen.«
»Auch das nicht.«
»Oder ein Flugzeug ist ihr auf den Kopf gefallen.«
Er sagte ihr, sie solle aufhören, dummes Zeug zu reden, und sich für die Schule fertigmachen, sie sei schon spät dran. Dann ging er mit seinem Handy ins Bad und versuchte es noch mal bei Mum. Die immer noch nicht ranging. Er schrieb Jacko. Er schrieb Sienna. Beiden das Gleiche: Bin am Start. Wer zuerst antwortete, kam zuerst. Auf Achse mit Jacko. Bettgeflüster mit Sienna. Wie das Schicksal es wollte. Er hatte keinen Bock mehr, Entscheidungen zu treffen.
Beim Pinkeln sah er in den
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