Ich gegen Dich
wenig sagte.
Das Mädchen beugte sich vor. »Karyn will keinen sehen, sie hat sich in ihrer Wohnung eingeschlossen und geht gar nicht mehr raus. Erzähl das deinem Bruder.«
»Ich darf nicht drüber reden.«
Das kümmerte die andere wenig. »Wir simsen ihr, aber sie will uns nicht treffen. Keine von uns. Nicht mal Stacey.«
»Sorry, aber ich hab nichts zu sagen.«
»Hast du Schuldgefühle?«
Die Röte stieg Ellie vom Hals ins Gesicht. »Warum sollte ich?«
»Also wenn ich der einzige Mensch in einem Haus gewesen wär, wo jemand vergewaltigt wurde, ich würd mich ziemlich schuldig fühlen.«
Es war eine einzige Erleichterung, als Mrs. Farrish eintraf und die Stunde begann. Auf ihr Arbeitsblatt trug Ellie Formeln ein. Im Kopf versuchte sie, sich wie in einer Fotoserie an die Abfolge der Ereignisse zu erinnern – Karyn, Stacey und drei Jungs waren mit Tom bei ihnen zu Hause aufgetaucht. Es war Samstagabend, und ihre Eltern waren nicht da. Ellie ging nach oben. Später schaute sie aus dem Fenster und sah, wie Tom und Karyn sich umarmten. Noch später sah sie, wie die beiden sich auf dem Flur vor ihrer Zimmertür küssten. Sie sah, wie Toms Hand Karyns Rücken hinabwanderte. Sah zu, wie Karyn den Absatz einer Riemchensandale vom Boden anhob und sich enger an ihn presste. Niemand wusste, dass Ellie diesen Kuss gesehen hatte, niemand auf der ganzen Welt. Wenn Tom Karyn mochte und sie ihn auch, warum hätte er ihr wehtun sollen? Warum hätte er sich etwas nehmen sollen, was Karyn ihm freiwillig geben wollte?
Englisch kam nach Mathe, die letzte Stunde vor der Pause. Schüler, die sie noch nie getroffen hatten, bestanden entweder darauf, ihr Fragen zu stellen, oder verhielten sich ruhig und töteten sie mit Blicken. Vielleicht würden alle, nachdem sie sie einmal gesehen und sich für eine Reaktionsweise entschieden hatten, wieder auf Normalmodus zurückschalten und sie nicht mehr beachten.
In der Pause war es im Flur nicht ganz so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte. Niemand rempelte sie an, haute ihr eine rein oder stieß sie gegen die Schließfächer. Als sie zur Toilette ging, grinste sie das einzige andere Mädchen dort bloß an und sagte: »Hi.«
Ellie schaltete einen Gang runter. So schlimm war es gar nicht. Viel schlimmer, Karyn zu sein – in der eigenen Wohnung eingesperrt, sich vor allen verkriechen. Wahrscheinlich wünschte sie sich, sie hätte das alles nie angefangen und dass Tom ihr Freund und nicht ihr Feind wäre.
Als Ellie also Stacey mit ihrer Freundin auf einer Bank unter den Bäumen sitzen sah, wusste sie, was sie tun musste. Sie fühlte sich tapfer und selbstsicher, während sie rüberging und sich vor ihnen aufbaute. Beide starrten sie total ungläubig an. Aber jetzt war es zu spät.
Sie sagte: »Wie geht's Karyn?«
Stacey schüttelte langsam den Kopf. »Redest du mit mir?«
»Ich wollte wissen, wie es Karyn geht.«
»Verpiss dich.«
»Wir sind uns begegnet, als du an dem Abend zu uns gekommen bist, weißt du nicht mehr? Ich weiß, dass du ihre Freundin bist, und ich wollte nicht so tun, als hätt ich dich nicht gesehen, es kam mir wichtig vor.«
»Wichtig?« Stacey verzog den Mund, als hätte sie einen schlechten Geschmack auf der Zunge.
»Ja.« Ellie wusste, dass sie rot wurde, verfluchte sich innerlich dafür, wie heiß ihr wurde. »Jemand hat mir gesagt, dass sie die Wohnung nicht mehr verlässt.«
Stacey stand auf und ging einen Schritt auf Ellie zu. Sie hatte schmale Lippen und einen blassen Teint. Ihre Augen waren braun. Nichts davon hatte Ellie zuvor von ihr gewusst. »Wenn ich Terror-SMS von deinem Bruder kriegen würde, hätt ich auch zu große Angst rauszugehen.«
»Er darf ihr nicht schreiben.«
»Ich rede von vorher, als sie ihm gesagt hat, dass sie zu den Bullen geht.«
Ellie schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, wovon Stacey da redete. »Wie geht es ihr jetzt? Das wollte ich wissen.«
Stacey trat noch einen Schritt vor. »Sie geht nicht aus der Wohnung, will ihre Freundinnen nicht sehen, geht nicht zur Schule. Sie hat voll die Krise. Zufrieden?«
»Das tut mir leid.«
»Warum, was hast du gemacht?«
»Nichts. Es tut mir einfach nur leid. Kannst du ihr bitte ausrichten, dass es mir leidtut?«
»Und du glaubst, sie schert sich einen feuchten Dreck drum, wie's dir dabei geht?«
Ellie spürte, wie die Demütigung in ihrem Gesicht und den Hals runter bis in die Brust brannte. Selbst in ihren Fingern brannte die Scham. Sie drehte sich um.
Aber Stacey
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