Ich gegen Osborne
[165] Schule sehen. Ende der Diskussion. Nachdem wir das ausgeräumt haben, lassen Sie uns über die Konsequenzen Ihres heutigen Handelns reden.«
»Mir ist es aber wichtig, diesen Anzug zu tragen. Ich bin in der zwölften Klasse und habe nur noch… wie viel? Fünf Wochen Schule vor mir? Mit welcher Strafe müsste ich denn rechnen, wenn ich ihn noch fünf Wochen anzöge?«
»Warum ist Ihnen der Anzug so wichtig?«
»Es gibt mehrere Gründe.«
»Nun, wenn Sie ihn weiter tragen, werden Sie ohne Schulabschluss bleiben. Was sagen Sie dazu?«
»Das kommt mir übertrieben streng vor, doch da ich weiß, dass es zwecklos ist, mich gegen die Obrigkeit aufzulehnen, na gut, dann trage ich den Anzug eben nicht mehr.«
Und damit war nicht nur jeder Kampfgeist weg und ich war geschlagen, sondern ich hatte komplett kapituliert.
10 . 40 »Was das Trinken angeht, halte ich drei Tage Suspendierung vom Unterricht für angemessen.«
»Das klingt akzeptabel«, sagte ich. »Wann fange ich an?«
»Morgen. Für jemanden, der noch nie Ärger hatte, tragen Sie es mit Fassung.«
»Mir ist alles gleich.«
»Was meinen Sie damit?«
»Das weiß ich nicht mal. Die Formulierung kam mir einfach in den Sinn. Das ist der zentrale Gedanke in meinem Kopf. Ehrlich gesagt hab ich die Anzug-Geschichte immer noch nicht überwunden.«
»Wenn Ihnen alles gleich ist, suspendiere ich Sie vielleicht fünf Tage.«
[166] »Wenn es so sein soll, muss ich es wohl hinnehmen.«
Er hatte die Wodkaflasche genau in die Mitte auf seinen Tischkalender gestellt, der offenbar wiederum genau in der Mitte des Schreibtischs lag, der vor dem Fenster stand. Er hatte alles unter Kontrolle.
Er gab mir den Zettel und sagte: »Melden Sie sich morgen früh als Erstes im Zimmer 108, und geben Sie das Mr. Tenta. Außerdem muss ich Ihre Eltern darüber informieren.«
»Oh. Ist das nötig?«
»Aha. Jetzt habe ich Ihre Aufmerksamkeit.«
»Meine Mom hat in letzter Zeit eine Menge durchgemacht. Ich würde sie lieber nicht damit behelligen.«
»Das hätten Sie sich überlegen sollen, bevor Sie die Flasche in die Schule mitbrachten.«
»Das wird nie wieder vorkommen, ich schwör’s. Heute ist für mich ein ungewöhnlicher Tag. Das war eine einmalige Sache. Bitte, Mr. Shankly, müssen Sie bei mir zu Hause anrufen?«
»Fühlen Sie, was Sie gerade fühlen?«
»Ob ich fühle, was ich gerade fühle ?«
»Ja. Fühlen Sie, was Sie gerade fühlen?«
»Ja. Das tue ich.«
»Gut. Ich will, dass Sie es wirklich fühlen. Fühlt sich nicht gut an, stimmt’s?«
»Nein.«
»Denken Sie an dieses Gefühl, bevor Sie das nächste Mal einen Blick in die Hausbar werfen.«
»Mache ich. Ich habe meine Lektion hundertprozentig gelernt.«
[167] »Gut.« Er drehte sich zu seinem Computer um und klickte auf die Maus.
»Sie rufen also nicht zu Hause an?«
»O doch. Natürlich rufe ich an. Sie sind ein guter Schüler, und wir müssen Sorge tragen, dass Sie ein guter Schüler bleiben . Wir müssen so etwas im Keim ersticken.«
»Ich werde also besonders hart bestraft, weil ich gut bin?«
»Nicht besonders hart. Für so einen Fall ist das Routine. Sie haben die Flasche zu Hause gestohlen. Das betrifft Ihre Eltern also direkt. Na, wo ist Ihre Telefonnummer?« Er linste auf den Computerschirm. Da wurde mir klar, an welches Tier er mich mit seinen Wangenknochen und Knopfaugen erinnerte. Es war doch ein Säugetier: eine Fledermaus, vielleicht sogar eine Vampirfledermaus.
»Ich habe gelogen. Es war der Wodka meines Spindpartners.« Er nahm den Hörer ab. »Können wir darüber reden?« Meine Stimme überschlug sich.
»Pst. Mrs. Stinson, ich finde die Kontaktdaten für James Weinbachs Eltern nicht auf meinem Computer. Könnten Sie sie für mich raussuchen?« Er legte den Hörer auf. »Wessen Wodka war es nun? Haben Sie sich entschieden?«
»Der meines Spindpartners. Er weiß nicht, dass ich ihn genommen habe.«
»Wie heißt Ihr Spindpartner?«
»Tyler Wilkey.«
Das Telefon klingelte.
»Sie haben sie schon?… Oh. Sagen Sie ihm, er soll warten… Ach so, na dann schicken Sie ihn rein.«
Drei Sekunden später ging die Tür auf, und ich sah [168] ausgelatschte Slipper, lange schmale Beine, ein Flanellhemd, das sich aus der Hose zu befreien versuchte, und einen grauen Bart, bei dem man automatisch »Englischlehrer« dachte.
10 . 42 Ich war wohl noch nie so glücklich gewesen, einen anderen Menschen zu sehen. Obwohl ich nicht wusste, was er hier wollte, wusste ich
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