Ich habe einen Namen: Roman
Trinity Church
fand ich heraus, dass der Unterricht für die Neger sechs Straßen weiter
nördlich in der St. Paul’s Chapel stattfand. Im Vergleich zur Trinity Church
war die Kapelle winzig, hatte aber etwas Warmes, Angenehmes und war der
richtige Ort für einfachere Gemüter. Der weiße Geistliche umfasste meine Hände,
als er hörte, dass ich lesen und schreiben konnte.
»Dann sind Sie genau
die, nach der ich gesucht habe«, sagte er.
Er verbreitete die
Nachricht durch ein paar Neger, die er kannte, und am Donnerstagabend gab ich meinen
ersten Unterricht. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen sechs Neger in die
Kapelle. Wir gingen in einen Nebenraum, der von Lampen und Kerzen erleuchtet
wurde, und sie nannten mir ihre Namen, kauerten sich um mich und legten mir
ihre Hände auf Schultern, Arme und Rücken, während sie die Worte betrachteten,
die unter meiner Hand Form annahmen.
»Was heißt das?«,
fragte ein großer, dünner Mann von etwa zwanzig Jahren.
»Das ist dein Name«,
sagte ich. »Claybourne Mitchell.«
»Nun, ich kann nich
lesen. Wie kann ich ihn da von allen and’ren Namen unterscheiden?«
»Ich bringe es dir
bei«, sagte ich.
»Ich kann ein Fass
jeder Größe bau’n«, sagte er, »aber beibringen kann man mir nichts.«
»Aber sicher doch«,
sagte ich.
»Sicher nicht. Mein
Master hat dafür gesorgt, deshalb bin ich ihm weggelaufen.«
»Du lernst es«, sagte
ich.
Die Hand auf meiner
Schulter, sah er zu, wie ich weiterschrieb. »Claybourne ist der einzige Name,
den sie mir gegeb’n haben«, sagte er. »Mitchell hab ich selbst ausgesucht. Hab
einen Mann den Namen mal rufen hör’n und ihn so gemocht, dass ich, als ich
herkam, beschloss’n hab, ich werd ein neuer Mensch. Ein freier Mann. Mit zwei
Namen, beide für mich.«
Eine Frau etwa in
Claybournes Alter, nur viel kleiner als er, dafür aber doppelt so dick, drängte
sich näher heran.
»Du gib’s diesem Mann
zu viel Zeit«, sagte sie. »Was iss mit mei’m Namen? Wann schreibs’ du den auf?«
»Hier ist er«, sagte
ich.
»Wo?«, sagte sie.
»Hier«, sagte ich und
deutete darauf. »Bertilda Mathias.«
»Das iss der Name, den
ich hab, und ich seh kei’n Grund, ihn zu ändern wie Claybourne. Der Mann hat’n
Mund groß wie’ne Zugbrücke.«
»Wer hat’n Mund groß
wie’ne Zugbrücke?«, sagte Claybourne.
»Denks’ du, diese
afrikanische Frau iss allein für dich da?«
Ich brachte Bertilda
dazu, mir ein bisschen mehr über sich zu erzählen und schrieb auch das auf,
damit sie es sehen konnte: »Wäscherin in der englischen Kaserne.«
»Du hass nich
aufgeschrieben, wie viel die mir zahl’n«, sagte sie.
»Du hast es mir nicht
gesagt.«
»Gut. Weil ich mehr
will. Schreib’s auf, wenn ich’n Schilling pro Tag krieg. Das hat meine Mama
gekriegt, bis sie gestorben iss.«
»Wie wäre es, wenn ich
schreibe: ›Ich will einen Schilling pro Tag‹?«, sagte ich.
»Das mach, Schwester.
Zeig mir, wie das aussieht.«
»Bist du auch dei’m
Master weggelaufen?«, fragte Claybourne sie.
»Nein, bin ich nich«,
antwortete sie. »Aber nenn mich bloß keine Sklavin. War nie eine und werd nie
eine sein. Mama ist befreit wor’n, bevor sie mich gekriegt hat, und sie hat,
seit ich klein war, für die Engländer gewasch’n.«
Ich schrieb: »Ich bin
frei geboren«, während sich alle sechs noch ein wenig näher drängten.
Nachdem ich die Namen
und ein paar Sätze zu jedem geschrieben hatte, übten wir die Laute der
verschiedenen Buchstaben ein. Dann schrieb ich noch einige Worte: New York. Canvas Town. Tories. Patrioten. Neger. Sklaven. Freie
Leute. Weiße Leute . Nach
zwei Stunden brachte der Pfarrer Brot, Käse und Äpfel.
»Gutes Brot«, sagte
Claybourne. »Frisch. Mein letztes Brot war hart wie’n Rumfass. Hätte selbs’
Rattenzähne geknackt.« Alle lachten, auch Bertilda. Claybourne sagte dem
Pfarrer, ich sei eine gute Lehrerin.
»Dann behandelt ihr sie
besser gut«, sagte der Pfarrer, »denn sie macht das umsonst.«
»Sie ist die beste
Lehrerin, die ich je gehabt hab«, sagte Claybourne.
»Du hass ja noch nie
eine gehabt«, erwiderte Bertilda.
»Ja, aber jetzt kann
ich mei’n eigenen Namen lesen«, sagte er.
»Bald lernt ihr alle,
eure Namen zu schreiben«, sagte ich.
»Wie schreibt man: ›Für
Ratten kein Zutritt‹?«, fragte Claybourne.
Alle sahen ihn verständnislos
an.
»Ich schreib das auf’n
großes, fettes Schild und stell’s am Rand von Canvas Town auf.«
Sie lachten auf dem Weg
nach draußen. Auf der
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