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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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roten Decke und konnte kaum
flüstern.
    »Hab noch nie nich
Besucher gehabt«, sagte sie keuchend.
    »Was ist mit dir?«,
sagte ich.
    »Bin alt und sterbe und
hab nich’s mehr zu sag’n.«
    Ich fühlte ihren
schwachen Puls und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Fieber hatte sie nicht.
»Brauchst du etwas?«
    »Gib mir Unterricht«,
sagte sie.
    Ich zeigte ihr ein paar
Zeilen aus der New Amsterdam Gazette , und wir lasen sie zusammen. Es ging
darum, dass die Rebellen ein Arsenal in der City Hall geplündert und die
Vorräte eines englischen Schiffes direkt in den Fluss geworfen hatten.
    »Da kommt Ärger«, sagte
sie.
    »Sieht so aus.«
    Mr Croft trat in die
Tür. Er wollte, dass wir gingen. Aber vorher musste er versprechen, dass wir
zurückkommen durften.
    »Danke, Kind«, sagte
Miss Betty. »Deine Mama hat dich gut großgezogen.«
    Ich wünschte, die Nacht
über an Miss Bettys Bett sitzen zu dürfen. Ich wünschte, bei ihr bleiben und
ihre Hand halten zu können, bis sie diese Welt verließ. Aber ich konnte ihr nur
den Arm drücken und sagen, wir kämen bald wieder.
    Zwei Tage
später nahmen Bertilda und ich Claybourne mit, um Miss Betty zu besuchen, und
mussten ewig klopfen, bis Mr Croft aufmachte.
    »Woher wisst ihr es?«,
fragte er.
    »Was?«
    »Sie ist heute
Nachmittag gestorben. Ich bin zur Trinity Church gegangen, aber die nehmen
keine Neger mehr in ihrem Friedhof auf. Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen
soll.«
    »Wir nehmen sie«, sagte
Claybourne.
    Mr Croft legte die
Hände zusammen. »Dafür kriegt ihr was. Ihr könnt sie aus ihrem Zimmer holen.«
    Bertilda und ich zogen
Miss Betty ihre Kirchenkleider an. Claybourne nahm die Kiste mit ihren
Habseligkeiten, aber ich sagte, er solle sie wieder hinstellen, öffnete sie und
nahm ein paar Perlen und Glasfläschchen heraus, die sie in einer Ledertasche
aufbewahrt hatte.
    »Die hier gehen mit
ihr«, sagte ich.
    Mr Croft überließ uns
Miss Bettys Bettwäsche und ihre Decken. Wir legten alles in die Kiste, bis auf
das beste Leintuch, in das wir den Leichnam einwickelten. Claybourne brachte
die Kiste nach Canvas Town und kam kurz darauf mit einer Schaufel, einer
Laterne und mehreren Männern und Frauen zurück.
    Miss Betty wog kaum
etwas. Wir trugen sie auf unseren Schultern und gingen den langen Weg nach
Norden, den Broadway hinauf, an der Chambers Street vorbei und in den Wald.
Weiter und weiter gingen wir, bis wir die Bestattungsstätte der Neger
erreichten. Während die Männer das Loch gruben, wickelten Bertilda und ich Miss
Betty aus ihrem Leintuch, strichen ihr das Haar zurecht und legten ihr die
Perlen und Fläschchen auf den Bauch.
    Niemand von uns hatte
Miss Betty wirklich gekannt, aber wir sangen für sie, hielten uns bei den
Händen und sagten ihr auf Wiedersehen, wie auch wir hofften, dass es einmal
jemand für uns tun würde.
    »Jesus, unser Herr und Erretter« , sang Bertilda, »trag diese Frau über das kalte grüne Wasser und bring sie nach
Hause.«
    Nachdem wir sie in das
flache Grab gelegt und mit Erde bedeckt hatten, suchten Claybourne und die
Männer im Mondlicht nach Steinen und schichteten sie auf einen runden Haufen.
    »Warum tut ihr das?«,
fragte ich.
    »Ich weiß es nich
genau«, sagte Claybourne, »aber ich hab’s auf den and’ren Negergräbern geseh’n,
und es scheint richtig und schicklich.«
    Wir gingen zurück nach
Süden, nach Manhattan hinein, und zerstreuten uns in kleine Gruppen, die sich
in der Dunkelheit auflösten.
    In dieser Nacht fühlte
ich mich in meinem Bett kälter und einsamer als je zuvor in dieser Stadt. Ein
Jahr war vergangen, seit mich Chekura in Charles Town besucht hatte. War er in
diesem Jahr noch einmal zurückgekommen, um nach mir zu sehen? Wenn ja, hatte
ihm jeder schwarze Obsthändler und Hausierer sagen können, dass Solomon Lindo
mit mir nach New York City gefahren war.
    Im November
wurde es kalt. Ich hatte eine Mütze und Fäustlinge aus Miss Bettys Kiste, die
ich Tag und Nacht trug. Die Mütze behielt ich sogar in der Tavern auf.
    »Die brauchst du hier
nicht«, sagte Sam, der mich mit der New Amsterdam
Gazette auf einem Hocker
sitzen sah.
    »Ich will die Wärme in
mir speichern, damit sie länger hält, wenn ich nach Hause komme«, sagte ich.
    Er brachte mir einen
dampfenden Kaffee. In der Zeitung stand, dass zwischen den Tories und den
Rebellen ein offener Krieg ausgebrochen sei. Was würde mit den Negern in New
York geschehen, fragte ich mich, wenn die Rebellen die Engländer

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