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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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sagte
der Mann, »deine Sorte gehört nach Birchtown.«
    Zurück auf der Water
Street sah ich nach links und rechts und fragte mich, wo ich Hilfe finden
könnte. Als ich nach St. Helena, Charles Town und New York gekommen war, hatte
ich nicht darüber nachdenken müssen, wo ich schlafen und etwas zu essen
bekommen würde. Hier hatte ich nichts und kannte niemanden. Aber ich hatte die
Freiheit gewählt, mit all ihren Unsicherheiten, und nichts auf der Welt würde
mich von diesem Weg abbringen.
    Etwas von der Größe
eines Junikäfers traf mich hinten am Kopf. Aber so, wie der Dezemberschnee
durch den Wind wirbelte, war es zu kalt für Insekten. Ich drehte mich um – und
wurde noch zweimal getroffen, jetzt ins Gesicht. Ich fing etwas auf meiner
Wange und hielt es fest. Es war eine Erdnuss. Und dann hörte ich Lachen. Zwei
weiße Männer mit zerlumpten britischen Uniformjacken reichten eine Flasche hin
und her. Als ich ihnen in die Augen sah, hörten sie mit dem Erdnusswerfen auf
und spuckten nach mir, einer nach dem anderen.
    Zwei Türen weiter die
Straße hinunter kam ich unter einem Schild durch, auf dem The Shelburne Crier stand. Ich öffnete die dazugehörige Tür. Ein großer weißer Mann
ordnete Buchstaben auf einem metallenen Stock.
    »’n Morgen«, sagte er,
den Blick auf seine Arbeit geheftet.
    »Auch Ihnen einen guten
Morgen«, sagte ich.
    Da sah er auf und
lächelte mir zaghaft zu. »Hatte ich mir doch gedacht, dass das ein Akzent von
einem weit wärmeren Ort als unserem hier war.«
    Mir kam der Gedanke,
dass niemand auf der Welt genau meinen Akzent hatte, gab es doch keinen, der in
genau den Dörfern und Städten auf zwei Kontinenten gelebt hatte wie ich. Ich
mochte meinen Akzent, woher immer er stammte, und wollte ihn behalten.
    »Ist das hier Port
Roseway?«, fragte ich.
    »Shelburne«, sagte er.
»Kommen Sie frisch vom Schiff?« Es schien ihm nichts auszumachen, dass ich
schwarz war und er mich nicht kannte.
    »Ja, aber ich dachte,
wir führen nach Port Roseway.«
    »Das stimmt schon, aber
der Name ist kürzlich geändert worden. Jetzt heißen wir Shelburne.«
    »Diese Buchstaben«,
sagte ich und nickte zu seiner Arbeit hin. »Die sind ja alle verkehrt herum.
Sieht aus, als hätte ein Kind versucht, sie zu schreiben, und sich geirrt.«
    »Sie haben ein scharfes
Auge. Aber die Buchstaben sind extra so gemacht, damit die Worte am Ende, nach
dem Drucken, richtig sind. Bis auf die Fehler, die ich beim Setzen mache.«
    »Ich kann Fehler
finden. Brauchen Sie Hilfe?«
    Er lächelte. »Ich
könnte alle mögliche Hilfe brauchen, aber ich kann Ihnen nichts zahlen. Wo um
alles haben Sie lesen gelernt?«
    »Das ist eine lange
Geschichte«, sagte ich.
    »Ich habe Zeit«, sagte
er. »Einige Leute hier in Shelburne werden Ihnen die kalte Schulter zeigen,
aber ich glaube daran, jeden Menschen nach seinen Verdiensten zu beurteilen.
Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?«
    Eine kalte Windböe
rüttelte an der Tür. »Danke, aber ich kann nicht lange bleiben. Ich suche nach
einer Unterkunft und muss Arbeit finden.«
    Er hieß Theo McArdle,
und ich trank seinen süßen Tee voller Dankbarkeit. Er bot mir an, ich solle
wiederkommen und seine ersten Andrucke Korrektur lesen, für Kekse, Tee,
Zeitungen und was immer an Informationen er mir geben könne. Und gleich noch
eine hilfreiche Einzelheit erfuhr ich beim Trinken meines Tees: Die freien
Neger lebten hauptsächlich in Birchtown, drei Meilen die Bucht hinunter. Mehr
darüber konnte ich im Grundbuchamt in Erfahrung bringen. Ich dankte Theo
McArdle für den Tee und versprach zurückzukommen.
    Die einzige Person im
Grundbuchamt war ein alter Neger, der auf einem Hocker neben einem Schild mit
der Aufschrift Bin Tee trinken saß. Sein Gesicht war voller
Pockennarben, und er trug ein Brillengestell ohne Gläser. Eines seiner Augen
war ganz milchig, aber das andere war klar. In der faltigen Hand, die dreimal
so groß und dick wie meine war, hielt er einen weißen Stock aus knorrigem
Birkenholz. Mit diesem Stock klopfte er mir sanft auf den Fuß.
    »Willst du’m alten,
gebrechlichen Mann nicht Hallo sagen?«, fragte er.
    »So alt bist du auch
wieder nicht«, sagte ich.
    Seine Lippen verzogen
sich zu einem Lächeln. »Das ist verdammt christlich von dir. Sag noch’n paar so
Sätze, damit dieser lahme, blinde Mann deine Stimme noch mal hört.«
    »Wird hier das Land
zugeteilt?«, fragte ich.
    »Hängt davon ab.«
    »Wovon?«
    Er beugte sich vor und
griff nach meiner Hand.

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