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Ich habe einen Namen: Roman

Ich habe einen Namen: Roman

Titel: Ich habe einen Namen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Hill
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Irgendwann muss ich eingeschlafen
sein.
    Ich erwachte im
Dunkeln. Ich war ganz an den Rand des Bettes geschoben worden, flach gegen die
Wand, und ich war nicht allein. Neben mir bewegten sich zwei Gestalten, die
eine auf der anderen, vor und zurück. Beide keuchten laut. Eine hatte eine
hohe, protestierende, verängstigte Stimme. Es war eine der Gefangenen, und sie
stieß einzelne Worte hervor, die ich nicht verstand. Sie lag unten. Der
Medizinmann lag auf ihr, grunzte und stieß in sie, auf und nieder, auf und
nieder. Ich drückte mich eng an die Wand und schloss die Augen. Ich wusste,
dass ein Mann eine Frau so nicht berühren sollte, solange sie nicht seine Frau
war. Selbst wenn mir Papa nicht einige Stellen aus dem Koran vorgelesen hätte,
hätte ich das gewusst.
    »Aaah!«, keuchte der
Toubab. Das Bett bewegte sich nicht mehr.
    Ich fühlte, wie das
Gewicht des Medizinmannes in den Raum zwischen mich und die Frau rollte, während
sie schluchzte und nach Luft schnappte. Bald schon beruhigte sich sein Atem,
und auch ihrer. Ich sah lange zu, wie sich ihre Brüste hoben und senkten, bis
auch ich wieder einschlief.
    Als ich aufwachte,
strömte Licht durchs Fenster. Der Medizinmann und die Frau waren verschwunden.
Ich zog den roten Stoff eng um mich. Das Fenster war zu. Auf dem Tisch daneben
fand ich ein paar Kaurischnecken und drei harte Metallstücke. Sie waren nicht
mal so dick wie ein kleiner Käfer und rund wie mein Daumennagel, nur größer.
Sie waren silbern, und ich biss hinein, aber sie gaben nicht nach. Beide Stücke
trugen auf einer Seite das Bild eines Männerkopfes.
    Während der
nächsten Tage zeigte mir der Toubab, wie ich aus der kleinen Kabine hinaus auf
Deck kam und wo die Abteile für die weiblichen und männlichen Gefangenen waren.
Die Frauen konnten die Männer besuchen, aber die Männer blieben angekettet und
durften ihren Bereich nicht verlassen. Bewaffnete Posten wachten darüber, dass
sie auf ihrem Teil des Decks blieben.
    Tagsüber konnte ich
mich frei an Deck bewegen, aber abends wurde ich im Raum des Medizinmanns
erwartet. Er zeigte mir, wie man seinen Vogel versorgte. Ich musste den Käfig
abends mit einem Tuch bedecken und es morgens wieder herunternehmen. Ich musste
den Käfig säubern und den Vogel mit Nüssen und all den anderen Leckereien
füttern, die der Toubab für ihn brachte. Bananen. Gekochtes Fleisch.
Jamswurzeln, Hirse, Reis. Der Vogel fraß alles. Wenn der Medizinmann nicht da
war, aß ich die Sachen selbst. Der Vogel protestierte, wenn ich die Nüsse aß,
deshalb gab ich ihm einige ab. Wenn ich es je zurück nach Bayo schaffen sollte,
würden es mir die Leute dort nicht glauben: Der
Toubab-Medizinmann liebte einen Vogel. Er ließ ihn auf seinem Arm sitzen. So
sehr liebte er ihn, dass er ihm die Toubab-Sprache beibrachte . Ich konnte mir ihre Reaktion nur
vorstellen. Sie würden mit allen möglichen Dingen nach mir werfen, johlend
lachen und zwei Monde lang von nichts anderem reden. Erzähl
uns noch mal von dem Mann und seinem Vogel .
    Der Medizinmann hat
mich nie zu berühren versucht, wenn der Vogel zusah. Erst musste ich das Tuch
über den Käfig legen. Es gibt Männer, in deren Augen der Wunsch brennt, dir
wehzutun, doch die Augen dieses Toubabs waren viel zu schwach, zu blau und zu
wässrig, auch wenn uns der Vogel nicht sehen konnte. Wann immer er mir seine
Hand auf die Schulter oder den Rücken legte, rückte ich wütend weg und zischte
ihn an. Dann zog er sich zurück wie ein getretener Hund und las in einem Buch,
das er in seinem Zimmer aufbewahrte. Er las laut daraus vor, und es klang, als
sagte er wieder und wieder die gleichen Worte. Komischerweise gab er mir bei
diesen Gelegenheiten, worum immer ich ihn bat. Essen. Wasser. Noch eine
Armlänge von dem Stoff in seiner Truhe. Oder eine der geheimnisvollen
Metallscheiben mit dem Männerkopf auf einer Seite.
    Die Toubabu
brachten die männlichen Gefangenen jeden Tag in kleinen Gruppen an Deck. Ich
sah sie aus der Luke kommen, heraus aus der Finsternis, stolpernd, vor der
Sonne zurückzuckend, die Arme vor die Augen hebend. Oben an Deck bekamen die
Männer Wasser und Essen und durften sich manchmal auch waschen. Ich sah, wie
ein älterer Mann nach vorn fiel, als er sich zu waschen versuchte. Er konnte
nicht wieder aufstehen. Seine Rippen traten hervor, und er schien völlig
erschöpft. Eine ebenfalls ältere Frau kümmerte sich um ihn, liebkoste seine
Stirn und hielt ihm eine Kalebasse Wasser an die Lippen. Vier Toubabu

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